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Silberfischchen

Titel: Silberfischchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger-Maria Mahlke
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dumpfen Zünden des Gasboilers. Hatte versucht, am Klang zu erkennen, ob es Besteck, Gläser, Teller oder Töpfe waren, die aneinanderstießen.
     Als es ruhig geworden war, einen stillen, unschlüssigen Moment lang, bevor ihre Schritte auf die Dunkelkammertür zukamen,
     hatte er hastig eine Entwicklerschale und die Dose mit dem Film aus dem Regal genommen und beides auf die Arbeitsplatte gestellt.
    »Nein, ich brauche nichts«, hatte er geantwortet, danke, Frau Potulski, ich brauche gar keine Hilfe, wollte er hinzusetzen.
     Aber sie sagte »gut, dann gehe ich schlafen«, und er hatte ihren Schritten auf den Dielen gelauscht, erst im Wohnzimmer, dann
     im Bad. Hatte die Entwicklerschale zurück ins Regal gestellt. Hatte abgewartet, bis sie den Badezimmerschlüssel gedreht hatte,
     ehe er ins Wohnzimmer ging.
    Der obere Rand der Tageszeitung zitterte, je mehr er versuchte, die Hände stillzuhalten, desto stärker. Hinter der Badezimmertür
     Stille, kein Wasserhahn, keine Klospülung.
    Das Geräusch des sich drehenden Schlüssels kam so plötzlich, dass er erschrak. Aus dem Zittern des Zeitungsrands wurde ein
     Flattern, schnell und papierflach, deutlich vernehmbar am anderen Ende des Flurs, in der Türöffnung des Badezimmers, in der
     sie ruhig und ohne zu lächeln stand, das T-Shirt hatte sie ausgezogen.
    Die Träger drückten in ihre fleischigen Schultern. Darunter, weiß, synthetisch glänzend wie ein Panzer |43| und prall gefüllt, die BH-Schalen. Die schwarze Hose hatte sie anbehalten. Ebenso eine beige Nylonstrumpfhose, die sie so
     weit hochgezogen hatte, dass ihr bleicher Bauch mittig in zwei Wülste geteilt wurde. Eine beige Nylonstrumpfhose, durch die
     ihr Bauchnabel aussah wie ein seltsam obszönes Loch, viel obszöner als der weiße Panzer.
    Ihre breiten Hände griffen rechts und links an ihre Schultern. Sie klappten den weißen Panzer nach unten.
    »Wollen Sie«, fragte Frau Potulski so ruhig, als hätte sie nur vergessen, »einen Tee?« oder »Mittagschlaf machen?« hinten
     dranzusetzen. Ihre Hände griffen nach hinten, öffneten den BH-Verschluss, ihr Rücken durchgedrückt.
    Ihre Brüste waren groß und natürlich zerstört. Zwei Schläuche, nicht eingesunken, sondern gut gefüllt, hingen hinab bis zum
     Bund der Strumpfhose. Sahen aus, als hätten sie ein spürbares Gewicht. Ihn ekelte es, wenn er sich das Gewicht in seinen Händen
     vorstellte. Vorsichtig stemmte er sich aus dem Sessel und ging wohl auf sie zu, denn sie kam näher, in der Türöffnung stehend,
     ihre Arme hingen ruhig herab, helles Licht fiel aus dem Bad hinter ihr in den Flur.
    Er würde sie nicht anheben, nur betasten. Die Brustwarzen waren nach unten gerutscht, zeigten zur Erde. Seine Hand sah absurd
     aus, seine Hand mit den braunen Altersflecken und den Aderschnüren bewegte sich vorwärts, schräg nach oben, an dem Regal mit
     den Handtüchern vorbei, an der Dose mit den Ohrstäbchen, dem hellblauen Wattepaket. Die Schläuche waren warm, er berührte
     sie mit den Fingerkuppen, strich |44| hinab, aber als er die Augen schloss, fühlten sie sich richtig an. Blitzschnell und aus der Tiefe: richtig.
    Er spürte, dass Frau Potulski ihm ihre Hände auf die Schultern legte, schwere Hände, sie rochen nach der Kamillenhandcreme
     und streichelten beruhigend. Störten ihn.
    »Hast du Kinder«, fragte er, ohne nachzudenken. Seine Stimme fremd, er machte die Augen auf: das weiße Regal wie immer, die
     Ohrstäbchendose wie immer, die Schläuche fremd. Er zog die Hand zurück, oder sie die Schläuche.
    »Nein«, sagte sie, »keine Kinder, nicht verheiratet. Wann soll ich Sie morgen wecken?«
     
    Schlafen konnte er nicht. Er lag im Dunklen, ab und an ein Auto auf der Straße, und einmal grölte ein Betrunkener. Aus dem
     Wohnzimmer nichts. Kein Atmen, kein Schnarchen, keine vorsichtigen Schritte, kein Innehalten, kein gedämpftes Türöffnen, kein
     Geflüster, nichts. Irgendwann stand er auf, ging barfuß zur Tür und drehte den Schlüssel, drehte leise und langsam, damit
     sie nichts merkte.

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    |45| 4.
    Seine Nase war verstopft, als er aufwachte, sein Rachen gereizt vom Schnarchen, er tastete nach den Taschentüchern auf dem
     Nachtschrank. Doch da war etwas Plastikglattes, seine Hand stieß dagegen, etwas Plastikglattes, das klappernd auf die Dielen
     fiel. Er setzte sich auf, vor dem Bett lag die rote Dose, daneben seine Zähne. Die Dose gehörte nicht auf den Nachtschrank,
     sie gehörte auf den Waschbeckenrand im Bad.

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