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Silberfischchen

Titel: Silberfischchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inger-Maria Mahlke
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geöffnet.
     
    Die Leiter war schwerer als in seiner Erinnerung. Es war auch höher, er musste hinauf bis auf die letzte Sprosse, und zwischen
     der letzten Sprosse und dem Schalental verblieb viel Luft. Mit den Händen zog er sich, die Sprossen fest umklammernd, mit
     den Füßen stieß er sich vom Boden ab. An einen Käfer, der tastend einen Grashalm hinaufkletterte, musste er denken, die Leiter
     kippelte bei jedem Zug, von einer Seite auf die andere. Er sah hinab auf die Dielen, gestern war ihm schwarz geworden, die
     Dielen sahen hart aus, hart und uneben. Er war ohnmächtig geworden auf dem Bahnsteig, die Leiter kippelte, von einer Seite
     auf die andere. Das Schalental kam langsam näher, mit den Händen zog er sich, mit den Füßen stieß er sich ab, bis es keine
     Sprossen mehr gab, um sich zu ziehen, und nichts da, um sich festzuhalten.
    Vorsichtig drehte er das Glas in seinem Gewinde, als er fühlte, dass es lockerer wurde, fasste er mit beiden Händen zu, drehte
     langsamer, bis er die Schale in den |52| Fingern hielt. Sie waren hellbraun und gleichzeitig grau, und es war viel Pulver aus ihnen geworden, und der Rest, Beine,
     Flügel, Panzer, Köpfe, war sehr leicht. Er musste sie abstellen, um die Tüte aus der Hosentasche zu ziehen, vorsichtig abstellen,
     nicht hineinatmen, nicht schräg halten, sie abstellen, oben auf der Leiter, er tastete mit dem Fuß nach unten, er wollte hinab,
     eine Sprosse weiter runter, dann könnte er das Glas abstellen, die Plastiktüte aus der Tasche ziehen – sie stieben auf. Wirbelten,
     kreisten anmutig, einzelne Flügel, graubraune weißgeäderte Blütenblätter, ekelerregend leicht, eine sich ausdehnende braunpudrige
     Wolke. »Nicht einatmen«, dachte er, »nicht einatmen.«

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    |53| 5.
    Er berührte mit den Fingern die Rücken von
Meyers Konversationslexikon
, er berührte jeden einzelnen Band, danach die gesammelten Werke von Goethe, Schiller und Shakespeare. Er hatte nur wenige
     Bücher behalten, noch zwei oder drei Reiseführer und ebenso viele Bildbände. Das Bücherregal hatte sie schon gewischt, die
     Bretter waren fettigsauber und rochen nach Möbelpolitur. Seine Finger stoppten beim
Faust
, zogen ihn ein Stück hervor, stießen ihn zurück,
Faust
hinterließ eine Staubspur. Der Staub fühlte sich rau an, er fuhr mit den Fingerkuppen das Regalbrett entlang, zog vier Streifen
     in die glänzende Oberfläche. Schließlich nahm er einen der Bildbände heraus. Der Bildband war recht neu,
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klebte noch immer rot auf dem Einband. »Pommern – die unvergessene Heimat in 216 historischen Großfotografien« stand quer
     über dem schwarz-weißen Rathaus von Kolberg. Er hatte den Bildband gekauft und zu den anderen ins Regal gestellt, angesehen
     hatte er ihn nicht.
    Er setzte sich in den grünen Sessel, sie war fertig mit den Fenstern, zog einen der oberen Pappschuber auf.
    »Nicht die Schuber«, sagte er, »die müssen nicht saubergemacht werden.«
    |54| »Es ist Staub drin, sehen Sie?«, sie hielt eine Fluse zwischen den Fingerspitzen.
    »Frau Potulski, Sie können wischen, was Sie wollen, aber nicht die Schuber«, wiederholte er, »ich meine es ernst.«
    »Jana bitte, nicht Frau Potulski«, sie schob die Schublade wieder zurück, öffnete das Sideboard.
    Wenn sie der Familie was angetan hatte, würde es dauern, bis es jemand bemerkte. Er überschlug das Vorwort, blätterte bis
     zum Bildteil, alle Aufnahmen waren schwarz-weiß. Niemand würde sie vermissen, sie waren im Urlaub.
    »Wer gießt die Blumen«, fragte er.
    Ihre Hände hielten inne, sie sah auf, »welche Blumen?«
    Er blätterte weiter, er suchte die Hakenterrasse. Nach spätestens drei Tagen müsste man es riechen, es sei denn, sie hatte
     sie luftdicht verpackt oder im Keller versteckt oder vergraben, nein, zum Vergraben hätte die Zeit nicht gereicht. Die Hakenterrasse
     war von schräg oben aufgenommen.
    »Kümmert sich jemand um die Post?«
    Sie sah ihn stumm an, wie vorhin im Flur, als sie die Flügel und das andere Zeug mit dem Feudel aufgewischt hatte. Er hob
     das Buch ein wenig höher, damit sie den Titel lesen konnte. Frau Potulski goss schweigend Politur auf das Staubtuch, er hielt
     den Bildband aufrechter, stützte ihn auf seine Knie, sie räumte Salz und Pfefferstreuer vom Sideboard, die goldene Weltuhr,
     die er nicht mehr aufzog, und wischte eine Schneise in den Staub.
    |55| Die Hakenterrasse war im Sommer aufgenommen worden, die Palmenkübel standen draußen,

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