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Silberflügel: Roman (German Edition)

Silberflügel: Roman (German Edition)

Titel: Silberflügel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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Windstoß packte ihn von der Seite, drückte ihn nach unten. Er wölbte die Flügel, versuchte zu steigen, aber er war so erschöpft, dass er kaum mit den Flügeln schlagen konnte.
    Unter sich sah er die gewaltige Ausdehnung des Wassers, weiß und schwarz aufgewühlt wie die Zungen einer Million hungriger Tiere. Wenn er aufschlug … Noch einmal reckte er die Schultern, versuchte Höhe zu gewinnen. Aber der Wind ließ es nicht zu.
    Sein Auge erfasste einen Lichtschimmer. Er verschwand, kam dann wieder. Nur Regen? Nein, er kam von etwas auf dem Wasser, das auf den rauen Wellen tanzte – einem Schiff, es musste ein Schiff der Menschen sein. Riesige Segel blähten sich an hohen Masten.
    Er trimmte die Flügel und richtete sich nach dem Schiff aus. Wild schleuderte ihn der Wind nach einer Seite und er schoss weit am Ziel vorbei. Er riss die letzten Kräfte zusammen, ruderte mit den Flügeln und machte taumelnd eine Wende zurück zum Schiff. Sollte er es wieder nicht treffen, wäre er für einen erneuten Versuch zu niedrig.
    Das Schiff war nun direkt vor ihm und pendelte wild vor dem Horizont, immer dichter vor ihm. Mit angespannten Flügeln näherte er sich dem höchsten Mast in halsbrecherischer Geschwindigkeit und mit Rückenwind. Er richtete die Flügel auf, bremste scharf mit ausgestreckten Krallen.
    Das Segel war dicker als erwartet und fast verlor er den Halt. Er presste die Krallen tiefer in das Tuch. Das Segel flatterte im Wind und hätte ihn fast abgeworfen.
    Zentimeterweise kroch Schatten auf den Mast zu und in eine stramme Falte des Segels hinein. Als er vor Wind und Regen geschützt war, legte er die Flügel um seinen zitternden Körper und versuchte die Übelkeit in seinem Magen zu besänftigen. Und die innere Stimme zum Schweigen zu bringen, die immer wieder fragte: Wie willst du nur wieder zurückkommen? Wie willst du sie jetzt jemals wieder finden?
    Schatten schreckte aus dem Schlaf.
    Das wilde Schwanken des Schiffes war einem sanften Rollen gewichen. Sein ganzer Körper tat ihm weh. Vorsichtig streckte er den Kopf aus dem Segel. Der Himmel war noch dunkel, die Sterne strahlten und er war sehr erleichtert Land zu sehen – eine kleine Bucht mit ein paar hölzernen Gebäuden auf den felsigen Abhängen.
    Das Schiff hatte ihn zum Land zurückgebracht!
    Vielleicht waren seine Mutter und der Rest der Kolonie nicht allzu weit weg. Er hob vom Mast ab und versuchte kreisend sich zu orientieren. Er wusste nicht, ob er an diesem Ort schon vorher vorbeigekommen war – sie waren über viele kleine Buchten geflogen, aber sie waren alle vom Nebel eingehüllt gewesen, und er konnte sich nicht erinnern, wie sie ausgesehen hatten.
    „Mami?“, rief er hoffnungsvoll. „Mami?“
    Seine Stimme wurde von den steilen Abhängen zu ihm zurückgeworfen.
    Er flog ins Landesinnere in der Absicht, sich vom Wasser zu entfernen und von dem starken Salzgeruch, der wohl von den Fischen stammte. Er schwebte über dem Hügel oberhalb der Baumwipfel und suchte nach Orientierungspunkten. Der von Menschen errichtete Turm, vielleicht würde er den entdecken. Aber nichts als unbekannter Wald erstreckte sich um ihn herum.
    „Hallo?“, rief er noch einmal in wachsender Panik.
    Es war gespenstisch ruhig. Vielleicht, wenn er niedriger flog. Er stürzte sich hinab und benutzte das Klang-Sehen, um zwischen silbrigen Ästen hindurchzukommen. Ein Eichhörnchen, das Nüsse in einer Astgabel stapelte. Schweigende Nester und Vögel, die sich im Schlaf mit den Krallen an ihre Sitzplätze klammerten. Das Pfeifen des Windes in den toten Blättern. In der Ferne ein grunzender Chor von Kröten. Aber keine Spur von Fledermäusen.
    Außer Atem landete er auf einem Ast. Denke nach, sagte er sich. Denke gründlich nach. Das Schiff hatte ihn zurück zum Land gebracht. Aber wohin? Angesichts des hellen Himmels nahm er an, dass es kurz vor der Morgendämmerung war. Und der Sturm hatte sie ungefähr um Mitternacht erwischt. Das bedeutete, dass er etwa sechs Stunden auf dem Schiff gewesen war. Wie schnell fuhr ein Schiff? Er wusste es nicht. In welche Richtung war es gefahren? Als ob er Zeit gehabt hätte darauf zu achten! Vielleicht nach Norden, vielleicht nach Süden.
    Er wusste nicht viel darüber, wie man sich an den Sternen orientierte. Genug, um Norden und Süden zu unterschieden. Er konnte nach Süden fliegen und versuchen die Kolonie einzuholen. Aber was war, wenn sie den Kurs geändert hatten, ins Landesinnere, und er sie erst richtig verpassen würde?

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