Silberflügel: Roman (German Edition)
wirklich mit Cassiel passiert war. Er würde herausbekommen, was die Ringe bedeuteten. Vielleicht würde das heißen, sich dahin zu begeben, wo die anderen Fledermäuse verschwunden waren. Aber er würde das Geheimnis des Großen Versprechens aufdecken. Und dann würde er seiner Kolonie das allergrößte Geschenk überbringen.
Er würde ihnen die Sonne bringen.
– 5 –
Der Sturm
Als sie in der nächsten Nacht aufbrachen, herrschte Nebel, der die Täler zudeckte und durch die Baumkronen sickerte. Ein scharfer Wind pfiff an Schattens Ohren vorbei und er zitterte. Sein Fell war mit Dunsttröpfchen bedeckt.
Aber er fühlte sich auf merkwürdige Weise gestärkt. Zur Morgendämmerung würde er mit den übrigen Silberflügeln im Felsenlager sein – zusammen mit den beringten Männchen, die seinen Vater gekannt hatten. Und er hatte einen Plan, der war fertig, als er aufwachte, und er war froh darüber wie über einen schön gefüllten Magen. Er würde seiner Mutter nichts davon sagen, es würde ihr nur Sorgen bereiten, von denen sie seinetwegen ohnehin schon genügend gehabt hatte. Frieda würde er es vielleicht erzählen, insgeheim. Er wusste, sie würde ihm helfen.
Am Morgen, als sie sich in der Scheune niederließen, war sie gekommen, um mit ihm und seiner Mutter zu reden, und zwar so, dass jeder es sehen konnte. Schatten war verlegen gewesen, aber auch stolz. Schließlich war er der Fledermausknirps, für den Frieda den Baumhort geopfert hatte. Er war wichtig, aber auf eine Art, die ihm nicht ganz geheuer war. Alle wahrten anscheinend immer noch Distanz zu ihm. Aber ein paar von den Jungen sagten zaghaft Hallo, bevor ihre Mütter sie wegholten. Von denen bekam er ein paar Mal ein kurzes Kopfnicken, jedenfalls besser als nichts. Vielleicht würden sie ihn doch nicht ewig hassen. Nur Bathsheba fixierte ihn mit hartem, starrem Blick, als sie die Scheune verließen, einem Blick, der ihn wütend machte, sich aber auch schuldig fühlen ließ.
Jetzt schaute er auf eine fremde, geisterhafte Landschaft hinab. Sie flogen oberhalb der Bäume, und durch die Risse im Dunst sah er neue Wälder, Wiesen und Bäche. Von Menschen gemachte Straßen schnitten durch die Hügel, und eines ihrer lauten Fahrzeuge raste darauf entlang und schoss Lichtstreifen in die Gegend. Ein scharfer, beißender Geruch stieg hinter ihm auf, und Schatten musste niesen. Auch einige ihrer Gebäude hatte er vorher gesehen, in Lichtungen ballten sie sich zusammen und von ihren Dächern stieg Rauch auf.
„Kalt?“, fragte ihn seine Mutter.
„Mir geht’s gut.“ Er wünschte, sie würde damit aufhören immer nach seinem Befinden zu fragen. Er war entschlossen sich zu bewähren. Auch wenn er ein Knirps war, er würde der ganzen Kolonie zeigen, dass er kein Schwächling war. Niemals würde er zurückbleiben und alle anderen aufhalten. Im Gegenteil, er würde es noch besser machen, er würde während der ganzen Reise in den vorderen Reihen bleiben, direkt bei Frieda und den anderen Ältesten. Er konnte jetzt Chinook vor sich sehen, wie er mit den starken Flügeln schlug.
Ein frischer, scharfer Geruch traf Schattens Nase, unähnlich allem, was er kannte. Fast im gleichen Augenblick hörte er ein neues Geräusch. Es hatte einen tiefen, pochenden Rhythmus wie ein mächtiges Tier, das langsam ausatmete, einatmete, wieder ausatmete. Er blickte zu Ariel hinüber.
„Ich zeig’s dir“, sagte sie.
Sie kantete die Flügel und stieg höher. Schatten folgte ihr, dann verschlug es ihm den Atem vor Staunen. Durch den Dunst konnte er sehen, dass der Wald in einer gezackten Linie endete und in eine gefleckte Dunkelheit überging, die sich grenzenlos ausdehnte. Es war der Rand der Welt.
Sofort erinnerte er sich an die Klangkarte seiner Mutter.
„Das ist alles Wasser?“, flüsterte er.
„Der Ozean.“
„Anscheinend ganz schön viel davon.“
„Es ist nicht wie das Wasser im Bach. Ich habe mal davon getrunken. Es schmeckt salzig.“
Näher am Land reckte sich das Wasser mit gewaltigen schwarzen und weißen Pfoten, krachte gegen die Felsen.
„Da fliegen wir nicht drüber, oder?“
„Nein.“
Schatten war erleichtert. Schon der Anblick des Ozeans gab ihm das Gefühl, sehr klein und merkwürdig allein zu sein. Da gab es keine Bäume, keine Äste, keine Felsen oder Erde. Nichts Festes. Was war, wenn man plötzlich landen musste? Er konnte noch nicht sehr gut schwimmen und er wollte es mit Sicherheit nicht dort unten versuchen. Er hatte Geschichten davon
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