Silberflügel: Roman (German Edition)
Tropensonne. Sie kam von einem verborgenen Ofen im Boden. Der Nieselregen und der Dunst kamen nicht vom Himmel, sondern aus kleinen Düsen in der flachen schwarzen Decke. Goth konnte erkennen, dass sogar einige von den Pflanzen künstlich waren, die Farnwedel steif und geruchlos. Glaubten die Menschen wirklich, er wäre so dumm?
Dieser Ort war überhaupt nicht wie sein Zuhause, der wirkliche Dschungel, wo sie ihn vor einem Monat gefangen hatten. Dieser Ort war ein Gefängnis – mit ein paar Hundert Schlägen seiner mächtigen Flügel konnte er darin die Runde machen. Anfangs, als sie ihn da hineingesetzt hatten, war er gegen die unsichtbaren Wände geprallt, törichterweise hatte er sich auf seine Augen verlassen statt auf sein Klang-Sehen. Diese Wände waren hart wie Stein, aber durch irgendeine Zauberei, die Goth nicht verstand, konnten seine Augen hindurchsehen auf die andere Seite, dorthin, wo die Menschen kamen und gingen und ihn beobachteten.
War ihnen nicht klar, wer er war? Ein Fürst aus der königlichen Familie, Vampyrum Spectrum, und ein Abkömmling von Cama Zotz, dem Gott der Fledermäuse und Beherrscher der Unterwelt. Alle Männer und Frauen wurden dorthin geschickt, wenn ihre Körper starben. Sie traten vor Zotz von Angesicht zu Angesicht, er würde über ihr Schicksal entscheiden und denen den Kopf abreißen, die während ihres Erdenlebens sein Missfallen erregt hatten.
In Goths Heimat wurde Zotz von den Menschen verehrt. Frauen pilgerten während der Schwangerschaft zur königlichen Höhle und beteten, dass ihre Kinder stark und gesund würden und ein langes Leben hätten. Sie brachten Opfergaben, Speisen und Blumen und glänzende Metallscheiben.
Aber die Menschen hier … Er funkelte den Ring an, den sie um seinen Unterarm befestigt hatten. Zeichen eines Gefangenen. Eine Unverschämtheit. Wenn er entkam, würde er zur königlichen Höhle zurückkehren und Cama Zotz anrufen, dass er sie bestrafe.
Besonders den Mann.
Er trug weiße Gewänder, war groß und hatte dürre Arme und Beine. Er hatte grobes schwarzes Haar und einen ungepflegten Bart. Eins seiner Augen war immer halb geschlossen. Das gab seinem Gesicht auf den ersten Blick einen schläfrigen Eindruck. Aber die Augen selbst waren alles andere als schläfrig, sondern hell und hart. Manchmal leuchtete der Mann ihm mit blendendem Licht ins Gesicht. Manchmal kam er in den künstlichen Dschungel und stieß ihm einen Pfeil in die Seite, der ihn in einen tiefen Schlaf versetzte. Meistens saß er nur auf der anderen Seite der unsichtbaren Wand und beobachtete ihn.
Unruhig spannte Goth die mächtigen Muskeln seiner massigen Brust und entfaltete die Flügel zu ihrer ganzen Spannweite von einem Meter. Er hatte einen großen eckigen Kopf mit einer borstigen Haarkrone. Er hatte große spitze Ohren und eine merkwürdig flache Nase, die sich dornförmig hochbog. Seine Augen waren groß, furchtlos und pechschwarz. Die lange Schnauze erinnerte eher an die eines Hundes als an die einer Fledermaus und war mit glänzenden Zähnen ausgestattet.
Sein ganzer Körper war angespannt, als wäre er auf dem Sprung, jeden Augenblick hinabzustürzen und anzugreifen.
Die Menschen fütterten ihn mit Mäusen, winzigen Dingern, die am Boden kauerten. Er hatte den Geschmack über: schlaff und wässrig, als kämen sie alle aus dem gleichen Wurf. Er sehnte sich nach Abwechslung.
Vor allem sehnte er sich nach Fledermaus, nach lebendigem, scharfem Fledermausfleisch.
Er sehnte sich danach wieder zu jagen.
Es gab einen anderen Gefangenen hier, eine Fledermaus namens Throbb. Sie waren zusammen gefangen worden, als sie im gleichen Teil des Dschungels jagten. Goth hatte Throbb nie gemocht, er war nicht aus königlichem Geblüt – ein schwaches, verlogenes Geschöpf, das sich vom Aas ernährte, das andere Tiere zurückließen. Er hatte sich wahrscheinlich nicht einmal gewehrt, als die Menschen ihn gefangen nahmen.
Goth hatte schnell sein eigenes Territorium markiert und Throbb in eine kleine Ecke des Dschungels verwiesen. Gelegentlich kämpfte er mit ihm um seine Mäuse, nicht weil er hungrig war, sondern weil es ihm etwas zu tun gab. Und es machte ihm Spaß, wie Throbb nachgab und wimmerte. Von Zeit zu Zeit hatte er sogar daran gedacht, Throbb zu fressen – so ausgehungert war er nach Fledermausfleisch. Aber obwohl er die andere Fledermaus verachtete, brauchte er sie doch. Sie musste ihm bei der Flucht helfen.
Und heute Abend würde er frei sein.
Von seinem Rastplatz
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