Silberflügel: Roman (German Edition)
brachte sie über den Fluss.
„Wie weit ist es?“, fragte Throbb zitternd.
„Vielleicht zwei Nächte, vielleicht mehr. Wenn wir auf den Orientierungspunkt treffen, weiß ich es.“
„Ich hoffe, du weißt, was du tust“, zischte ihm Goth zu. „Falls du versuchen solltest uns reinzulegen, denk an deine Freundin Marina.“
Schweigend flogen sie eine Stunde lang, indem sie den Windungen des Flusses folgten. Seine Kolonie. Er wusste, dass sie nahe waren, und das Herz wurde ihm schwer. Er wollte schlafen. Er wollte warm sein. Er wollte all seine Probleme loswerden. Nach einer Stunde begann der Horizont zu leuchten.
„Ich habe Hunger“, sagte Marina. „Wir haben lange nichts gegessen.“
Es stimmte, wurde Schatten klar. Er hatte das gähnende Loch in seinem Magen noch nicht einmal bemerkt.
Goth blickte sie an. „Ja, esst ein paar von euren kleinen Insekten, aber bleibt in Sichtweite am Fluss. Wir beobachten euch.“
Während die beiden riesigen Fledermäuse über ihnen kreisten, suchten Schatten und Marina ohne Begeisterung nach Insekteneiern und Schneeflöhen. Sie wagten nicht, normal zu sprechen.
„Sie werden uns umbringen, weißt du“, flüsterte sie.
Er nickte und dachte an Zephirs Worte. Mächtige Kräfte waren auf der Suche nach Hibernaculum. Aber wer würde als Erster dorthin gelangen?
„Sobald sie wissen, wie sie dorthin gelangen“, sagte Marina, „werden sie uns nicht mehr brauchen. Sie werden uns auffressen.“
Und was würden sie mit seiner Kolonie anstellen? Konnten die Silberflügel gegen Goth und Throbb kämpfen? Die Männchen würden dort sein. Gewiss könnten sie alle zusammen die Kannibalenfledermäuse schlagen, egal wie mächtig die waren. Aber …
Was wäre, wenn Goth und Throbb nicht als Feinde dort ankämen? Kälte sickerte durch seinen Körper. Was wäre, wenn sie sich der Kolonie genauso näherten, wie sie sich ihm genähert hatten? Friedlich? Hilfsbereit? Was wäre, wenn die Silberflügel ihnen vertrauten und sie bei ihnen überwintern ließen? Sie würden im Schlaf gefressen werden. Einer nach dem anderen, den ganzen Winter lang. Und keiner würde aufwachen und es bemerken, bis es zu spät war.
„Was ist das für eine Narbe auf Throbbs Flügel?“, fragte er Marina.
„Erfrierungen. Ich habe so etwas schon früher mal gesehen. Eine Fledermaus hatte sich für ein paar Nächte in einem Eissturm verflogen. Sie hat den ganzen Flügel verloren.“
Schatten dachte nach. „Wird das Throbb auch so gehen?“
„Vielleicht. Die Spitze sieht schlimm aus. Und es wird sich ausbreiten.“
„Goth wird es auch bekommen.“
„Er ist ein bisschen größer, aber er verträgt die Kälte auch nicht. Wer weiß das schon, Schatten. Es könnte Wochen dauern.“
„Wenn wir sie vielleicht vom Kurs abbringen, sie in der Kälte halten …“
Aber wie lange konnte er das riskieren, bevor Goth die Geduld verlor und sie beide umbrachte? Goth war schon argwöhnisch. Er traute ihm nicht. Und wie lange konnten er und Marina die Kälte aushalten?
Goth stürzte zu ihnen herab.
„Das reicht“, sagte er. „Wir müssen einen Schlafplatz finden.“
Schatten schaute weg, als die zwei Kannibalen den Finken zerrissen, den sie von ihrer Jagd mitgebracht hatten.
In der schmalen Aushöhlung eines toten Baumes hatten sie einen Schlafplatz gefunden. Es war beengt da drinnen und Goth und Throbb kauerten vor dem Eingang und blockierten ihn. Schatten bemerkte, dass Throbb heftig zitterte, während er fraß, und seinen verschorften Flügel an der rauen Innenseite des Baumes rieb. Die Eingeweide des Finks dampften.
„Meine Essgewohnheiten erregen immer noch euren Abscheu, wie ich sehe“, sagte Goth.
„Ihr fresst Fledermäuse. Das ist wider die Natur.“
„Mehr wider die Natur als den Wunsch zu haben ein Mensch zu werden?“
Throbb lachte gefühllos, während er kaute.
Goth schnaubte verächtlich. „Diese beringten Fledermäuse in den Bergen, sie haben eine Religion daraus gemacht, die Menschen zu verehren statt Zotz.“
Zotz. Aus irgendeinem Grund ließ der Name Schatten schaudern.
„Du hast noch nie von ihm gehört, nicht wahr?“
„Nein.“ Und er wollte auch nicht von ihm hören.
„Cama Zotz ist der Gott der Fledermäuse. Er hat uns erschaffen und alles um uns, sogar diese gefrorene Wüste, die du Heimat nennst.“
„Nein.“ Schatten schüttelte den Kopf. „Nocturna hat uns alle erschaffen und …“
„Warum machst du dir überhaupt die Mühe ihm zuzuhören?“, fragte Marina
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