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Silberflügel: Roman (German Edition)

Silberflügel: Roman (German Edition)

Titel: Silberflügel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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wandte sich zu Marina. „Ich hatte schon so ein Gefühl … Auf dem Floß habe ich mir die Wächter angeschaut und gedacht, wirklich, mit Flügeln würden sie fast genauso aussehen wie wir.“ Und vielleicht erklärte das auch die Stimme von Romulus, dieses merkwürdige fledermausähnliche Kreischen.
    „Wir sind verwandt, denke ich“, sagte Romulus. „Ich nehme an, vor Millionen von Jahren waren wir die gleiche Art.“
    Er schüttelte die gespannten Hautfalten zwischen Armen und Beinen. „Und ich denke, es gibt Erinnerungen daran, verlorene Geheimnisse, die nun zufällig in mir wieder zutage getreten sind. Ich habe viel Zeit an der Oberfläche verbracht und dies jahrelang studiert.“ Er stellte sich auf. „Natürlich könnte ich mich irren. Es ist nur eine Theorie. Und keine, die am Hof meines Bruders sehr popular wäre, wie ihr euch denken könnt. Wenn er nicht glaubte, ich wäre verrückt, hätte er mich schon vor Jahren ertränkt. Eine Missgeburt zu sein hat seine Vorteile, versichere ich euch.“
    Schatten schwieg einen Augenblick und versuchte diese Neuigkeiten zu verdauen. Der Gedanke, sie könnten mit den Ratten verwandt sein.
    „Merkwürdig, dass wir heute verfeindet sein sollten, nicht wahr?“, sagte Romulus.
    Schatten nickte. „Diese großen Fledermäuse, die du gesehen hast. Die, die uns gejagt haben. Sie kommen wirklich aus dem Dschungel. Es sind die, die Ratten getötet haben. Wir können sie nicht daran hindern.“
    „Jemand muss das aber tun“, sagte Romulus, „bevor sie einen Krieg zwischen allen Geschöpfen entfesseln.“
    „Es könnte dafür schon zu spät sein“, sagte Marina. „Jedenfalls haben wir genug eigene Sorgen. Wie sollen wir hier herauskommen?“
    „Das Problem“, sagte Romulus grinsend, „lässt sich leicht lösen.“
    Er rutschte zu einer Wand seiner Kammer und begann mit den Krallen der Vorderpfoten durch den Dreck zu graben und ihn in einem Haufen hinter sich zu werfen. Nach ein paar Minuten hatte er einen engen Tunnel freigelegt.
    „Wie sonst, denkt ihr, komme ich so häufig nach oben?“, sagte er. „Folgt diesem Gang. Er wird euch zu den Außenbezirken der Menschenstadt führen. Ihr müsst allerdings kriechen, fürchte ich. Vielleicht ein wenig würdelos für Fledermäuse, aber für euer Leben doch ein geringer Preis. Mein Bruder ist nicht gerade für seine Barmherzigkeit bekannt.“
    „Was wirst du ihm erzählen?“, fragte Schatten.
    „Ich werde ihm erzählen, dass ich euch beide aufgefressen habe, bis auf das letzte Knöchelchen.“
    „Danke“, sagte Schatten.
    „Vielleicht“, sagte Romulus, „treffen wir drei uns ja eines Tages unter angenehmeren Umständen wieder.“

– 20 –
Die Gefangenschaft
    Er kroch hinter Marina durch den stickigen Tunnel immer weiter nach oben. Bei jedem Schritt versanken die Krallen tief im Matsch. Planlos erweiterte und verengte sich der Gang oder wand sich in steilen Spiralen. Sie mussten sich flach machen und auf dem Bauch zentimeterweise vorwärts schieben. An zwei Stellen mussten sie sich durch Einbrüche wühlen. Schatten fürchtete die ganze Zeit, sie würden lebendig begraben. Sein Klang-Sehen war praktisch unbrauchbar in so beengten Räumen. Er bewegte sich wie ein Blinder, tastete sich nur nach dem Gefühl weiter. Immer wieder schien ihr Tunnel in der Nähe von anderen zu verlaufen, und er konnte das Geräusch von Rattenkrallen auf Stein oder auf Rohren hören, manchmal sogar gedämpfte Stimmen. Er und Marina erstarrten dann jedes Mal, wagten nicht zu atmen und warteten, bis sich die Geräusche wieder entfernten. Er hatte Angst, jeden Augenblick könnten Rattenschnauzen durch die Erdwände stoßen und nach ihnen schnappen.
    Schließlich begann die Finsternis sich aufzuhellen und Schatten konnte etwas riechen außer dem erstickenden Gestank des Schlamms. Frische Luft, nur eine Ahnung davon, und dann wurde das schnell von etwas anderem überlagert, das nicht so angenehm war.
    „Was ist das?“, fragte Marina voller Abscheu.
    In dem Verlangen, endlich an die Oberfläche zu kommen, eilten sie trotzdem weiter und gelangten in einen gewaltigen Berg menschlichen Abfalls. Schatten musste würgen und versuchte nichts zu berühren. Er machte sich so klein wie möglich, während er einen Weg ins Freie suchte. Er entdeckte einen Gang, den Romulus durch den Müll gegraben hatte, und kroch darin eilig weiter.
    Über ihnen öffnete sich der Nachthimmel. Freudig breitete Schatten die Flügel aus und erhob sich in die Luft.

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