Silberlicht
Jennys Zimmer.
»Ich habe noch Sachen in meinem Schließfach«, brabbelte ich. »Ich muss zurück.«
»Jennifer Ann, sei still«, fuhr Cathy mich an, als ob ich drei Jahre alt wäre.
Ich saß auf meinem Bett und sah Jennys Eltern durch die offene Tür im Flur aufgeregt miteinander flüstern. Ich konnte nichts verstehen, doch im nächsten Moment stand Dan in meiner Tür. Ein seltsamer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Was war das nur? Er glaubte, seine fünfzehnjährige Tochter hatte eine Affäre mit ihrem Englischlehrer, und auch wenn er im Büro der Direktorin wütend gewesen war, so hatte doch etwas in seinen Augen gefehlt. Und dasselbe schwarze Loch starrte mir auch jetzt wieder entgegen.
Was war es, das mich so irritierte? Er glaubte, sein kleines Mädchen sei geschändet worden. Doch der Blick, mit dem er mich jetzt, nachdem sein Zorn abgeebbt war, bedachte, zeigte keinen Schmerz, sondern vielmehr Faszination. Er war einfach nur neugierig und stellte sich vor, wie ich Sex mit einem erwachsenen Mann in einem leeren Klassenzimmer hatte. Das war es, was mir fehlte: sein Kummer. Eiseskälte überlief mich. Als Cathy zurück in den Flur kam, trat wieder die alte Missbilligung in seine Züge. Sie reichte mir ein Glas Wasser und eine Tablette.
»Nimm das«, sagte sie bestimmt. »Und geh ins Bett.«
Dan verschwand, und meine Finger griffen gehorsam nach der Pille.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Valium«, antwortete sie knapp. »Ich werde einen Termin beim Arzt für dich vereinbaren.«
Ich tat so, als würde ich mir die Tablette auf die Zunge legen, behielt sie jedoch in meiner Faust. Dann nahm ich einen Schluck Wasser und warf dabei den Kopf ein wenig nach hinten.
»Ich wecke dich zum Abendessen«, sagte Cathy. »Und dann wirst du uns die Wahrheit erzählen, das verspreche ich dir.«
Cathy schloss die Tür hinter sich, und ich wickelte die Tablette in ein Taschentuch, bevor ich sie in den weißen Weidenabfallkorb warf. Ich hatte keinen richtigen Plan, außer dass ich unbedingt zu James musste. Aus Jennys Kleidern formte ich eine Puppe in der Mitte des Bettes, über die ich die Decke legte. Ich löschte das Licht, öffnete vorsichtig das Fenster und stieg mit dem rechten Fuß zuerst hinaus. Ich fragte mich, ob Jenny ihren Körper wohl auch so zurückgelassen hatte. Ob sie aus ihrer fleischlichen Hülle gestiegen war und vorher eine Decke über ihr ausgebreitet hatte?
Ich merkte, dass ich nicht einmal an eine Handtasche gedacht hatte, als ich in Cathys und Dans furchterregend perfekten Garten sprang. Kein Tier, kein Vogel, kein Gras störte die Stille hier.
Ich schlich auf die Straße und ging den Gehweg entlang. Am liebsten wäre ich gerannt, doch ich wollte keine Aufmerksamkeit erregen. Ich hatte nicht einmal genug Geld für den Bus, doch eine alte Frau in der ersten Reihe gab mir einen Vierteldollar. Ein kleiner Hund lugte aus ihrer Handtasche hervor. Ich dankte ihr, doch das Almosen war mir so peinlich, dass ich mich in den rückwärtigen Teil des Busses zurückzog, wo sie mich nicht sehen konnte. Mittlerweile wusste ich, welche Haltestelle der Amelia Street am nächsten lag, doch ich wagte nicht, mich zu setzen. Stattdessen wartete ich an der hinteren Tür.
Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich James erklärte, dass die Anklage gegen ihn fallengelassen worden war. Sie konnten ihn nicht einsperren, nur weil er mich liebte. Er war selbst noch minderjährig. Selbst wenn Cathy und Dan mich auf eine andere Schule schickten, würden wir uns finden – in der Bibliothek, im Park, im Einkaufszentrum.
In der Einfahrt vor James’ Haus parkten die Autos von Mitch und Libby. Ich war aus ihrem Haus verbannt worden, doch ich wagte es trotzdem zu klopfen. Mitch öffnete mir die Tür, die Augen müde und dunkel umschattet, sein Oberkörper nackt.
»Kann ich mit Billy sprechen?«
»Nein«, antwortete Mitch barsch. »Er darf niemanden sehen.«
»Nur eine Minute …«
»Geh wieder in die Schule«, sagte er und warf die Tür ins Schloss.
Die Vorhänge vor Billys Zimmerfenster waren zugezogen. Ich beschloss, durch das Kiesbeet der direkt angrenzenden Nachbarn zu schleichen. Deren Auffahrt war leer, die Fenster dunkel. Versehentlich stieß ich gegen ein kleines Grabschild, auf dem »Geliebte Mitzi« stand. Wir hatten uns zwar entschieden, die gestohlenen Körper zurückzugeben, doch wir hatten keine Ahnung, wie wir das bewerkstelligen sollten. Ich war verzweifelt. Ich konnte ihn nicht verlassen, ohne ihn noch
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