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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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einen Herzschlag lang nach. »Dein Vater hatte getrunken, während Mitch in der Arbeit war. An jenem Tag hat er eine Buchstütze anstelle seiner Hand benutzt. Und er hat nicht aufgehört.«
    »Warum habe ich ihn nicht aufgehalten?«
    »Schatz«, tadelte sie ihn sanft, »du warst zwölf. Und er hat dich durch das Fenster geworfen.«
    »Ich glaube, Mitch gibt mir die Schuld«, sagte James. »Richtig?«
    Die Frage brachte Verna für einen Moment aus der Fassung. Sie schraubte das Nagellackfläschchen zu und sah ihn ernst an. »Billy, Mitch denkt, er hätte euch beide retten können, wenn er da gewesen wäre.«
    »Wie heißt sie mit Vornamen?«, fragte James. Wir konnten uns beide nicht mehr daran erinnern.
    Verna schien ein wenig irritiert. »Sarah.« Vorsichtig ließ sie den frisch lackierten Fuß sinken und machte James Platz, der sich vor den Rollstuhl kniete.
    »Sarah«, flüsterte er. »Billy ist nicht tot. Ich habe nur seinen Platz eingenommen. Aber ich weiß nicht, wie ich ihn zurückrufen soll.« James nahm ihre rechte Hand und versuchte, ihr in die Augen zu sehen, doch ihr Kopf war auf die Brust gesunken. »Hilf mir«, sagte James.
    Ich betete für James, dass er irgendetwas empfangen würde. Verna sah sehr verwirrt aus.
    »Bitte«, sagte James. »Was soll ich tun?«
    Verna warf mir einen Blick zu, doch ich konnte die Frage in ihren Augen nicht beantworten.
    »Bitte.« James legte Sarahs rechte Hand an seine Wange. »Zeig mir, was ich tun soll.« Bis auf ein kleines Zucken in der linken Hand war ihr Körper regungslos wie Wachs.
    »Was passiert hier?« Verna klang ängstlich.
    Das Licht der Deckenlampe spiegelte sich in Sarahs Ehering, als ihr Finger zu zittern begann.
    »Schau«, sagte ich. James folgte meinem Blick. Er berührte den Ring, und das Zucken verschwand.
    »Danke«, sagte er und küsste Sarahs Hand.
    »Wo wird mein Vater festgehalten?«, frage er Verna.
    »In Glisan.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Mitch hat dich nie dahin mitgenommen?«
    »Wo ist das?«, fragte James weiter.
    »Den MLK Boulevard stadtauswärts.« Verna griff nach ihrer Handtasche. »Ich werde euch fahren.«
    »Nein.« James nahm meine Hand. »Bitte bleib hier bei Sarah.«
    Verna sah uns besorgt nach, als wir aus dem Raum rannten.
    Als wir den Parkplatz zur Hälfte überquert hatten, blickte ich mich um und sah durch die Glastüren, wie Verna das Telefon an der Rezeption benutzte.
     
    James musste die ersten Blocks neben dem Busfahrer stehen bleiben, um herauszufinden, wohin wir überhaupt fahren mussten. In der dritten Reihe weinte ein Säugling so herzerweichend, dass es mir in den Knochen weh tat. Als ich Licht war, hatte ich Babyweinen kaum wahrgenommen, doch jetzt vibrierte jeder Schluchzer in meinem Kopf.
    Als sich James neben mir niederließ, nahm er meine Hand und presste sie gegen seine Brust. Wie ein Ritter vor dem Kampf sammelte er seine Kräfte. Bitte, dachte ich, bitte verlass mich nicht.
    Ich blickte auf das gegenüberliegende Fenster der anderen Busseite. Zwei Billys spiegelten sich in der Scheibe, doch nur eine Jenny. James drückte meine Hand fester.
    »Er ist es«, flüsterte er.
    Der zweite Billy war verschwunden.
    »Wer?«, fragte ich.
    »Billy.«
    Freude durchzuckte mich; irgendetwas schien seinen Geist zurückgerufen zu haben. Suchend blickte ich die Fensterreihen auf und ab, um einen zweiten Blick auf ihn zu erhaschen. Gleichzeitig fürchtete ich, dass seine Präsenz das Ende meiner Zeit mit James bedeuten würde.
     
    Nachdem wir in einen anderen Bus umgestiegen waren, sah James mich lange an und küsste mich, als ob er kurz vor einer Wüstendurchquerung stünde und das Wasser einer seltenen Quelle kostete. Ich spürte seine Unruhe, sein Gesicht war gerötet und warm.
    »Was wirst du seinem Vater sagen?«, fragte ich.
    »Ich weiß es nicht.«
    »Was wird mit uns passieren?« Ich hatte meine Arme um ihn geschlungen und meine Beine über seine gelegt.
    »Ich weiß es nicht.« Wir zitterten, doch jeder aus einem anderen Grund. Ich zitterte vor Angst, James vor Aufregung – wie ein Jäger, auf den Spuren eines Bären; ein Kind, das an Halloween die Straßen unsicher macht.

    Das Glisan County Gefängnis war eine schieferfarbene rasterförmige Anlage. Eine riesige Rasenfläche erstreckte sich vor dem Büro, das der gewaltigen Umzäunung vorangestellt war. Es sah aus wie ein Mausoleum, aus dem kein Körper entfliehen konnte. Ich wartete bei den Glastüren in der Lobby, während James mit dem

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