Silberlicht
heiß unter meinem Griff an. Ich erinnerte mich, wie ich zu Füßen meiner ersten Bewahrerin geweint hatte und ihre Hand halten wollte. Jetzt war es Cathy, die weinte.
»Ich habe es versucht, aber ich kann nicht mehr, und ich weiß nicht, wie ich ihren Körper verlassen soll.«
»Jenny.« Tränen strömten ihr über Wangen und Kinn. »Du tust mir weh.«
»Jenny ist tot!«
Als ich Cathys Arm losließ, war ich tatsächlich überzeugt, dass Jenny nicht zurückkommen würde. Ich war für immer in ihrem Körper und ihrem Leben gefangen. Ich erwartete, dass Cathy tröstend ihre Arme um mich legen würde, doch nichts geschah. Autos hupten, und sie stand mühsam auf. Ich kniete weiter auf der Straße und weinte in meine Hände, bis ich Jennys Mutter mit jemandem reden hörte. Ich sah, dass ein blauer Van am Straßenrand gehalten hatte und Cathy den Fahrer bat, sein Telefon benutzen zu dürfen. Einen irren Moment lang stellte ich mir vor, dass die Polizei kommen und mich zu James in die Zelle sperren würde. Doch eine psychiatrische Klinik war wohl eher mein Schicksal.
»Nein«, sagte ich, während ich mich erhob. »Ich steige jetzt wieder ein.«
Cathy drehte sich zu mir um, ihr Gesicht war kreidebleich und mit Spuren von Mascara überzogen. Sie gab dem Mann sein Telefon zurück, und der Van fuhr davon. Im gegenüberliegenden Haus flammte Licht auf. Zwei weitere Autos hatten angehalten, um das seltsame Drama zu beobachten – eine verängstigte Mutter und ihr verzweifeltes Kind, die weinend auf dem Gehsteig eines fremden Viertels saßen. Auf dem benachbarten Grundstück bellte ein Hund.
Der Rasensprenger versiegte, als ich neben das Auto trat. Cathy blieb auf Distanz, bis ich mich wieder angeschnallt hatte. Für den Rest der Fahrt sprach sie kein Wort mit mir.
Als wir in die Auffahrt fuhren, war Dan gerade dabei, den Kofferraum seines Wagens zu beladen. Er schlug die Klappe zu und wartete mit verschränkten Armen, bis wir ausgestiegen waren.
»Geh in dein Zimmer«, sagte Cathy. Ihre Knie zitterten immer noch.
Ich gehorchte und setzte mich auf Jennys Bett. Die Kleider, die ich unter der Decke aufgehäuft hatte, lagen sauber gefaltet neben dem Kopfkissen. Mitch hätte die Kleider rasend vor Wut durchs Zimmer geschleudert, doch Cathy hatte die Pullover und Blusen sorgfältig gefaltet und übereinandergelegt.
Durch die Zimmerwand hörte ich die besorgten Stimmen von Jennys Eltern, doch ich verstand kein Wort. Schließlich öffnete Cathy die Tür. Sie hielt den Blick auf den Boden gerichtet, während sie mich in die Gebetsecke beorderte. Dan stand bereits neben dem Stuhlkreis. Cathy befahl mir, mich auf meinen gewohnten Stuhl zu setzen. Die beiden blieben stehen. Die Bibel und das Tagebuch waren verschwunden.
»Wir machen uns Sorgen um dich«, begann Dan. »Du lügst und demütigst deine Mutter vor ihren Freunden, machst in der Öffentlichkeit eine Szene.«
»Sie hatte eine Art Anfall«, sagte Cathy. Es tat mir leid, dass ich sie so erschreckt hatte. Ihre Knie waren vom Gehsteig ganz verschrammt. »Ich denke, wir sollten mit ihr in die Notaufnahme fahren«, flüsterte sie.
»Werd nicht hysterisch.« Dan sprach leise, doch sie gehorchte ihm unbesehen.
»Wir haben für morgen früh einen Beratungstermin mit dem Pfarrer vereinbart«, sagte Dan. »Und deine Mutter wird die Unterlagen für den Heimunterricht holen.«
Cathy stellte sich hinter ihren Stuhl, eine Nebenfigur, die nach Macht verlangte.
»Mr. Brown hat mich nie angefasst«, versicherte ich ihnen. »Warum ruft ihr nicht meinen Freund an?«
»Das habe ich getan.« Dan seufzte und tat so, als täte ihm das, was er mir gleich sagen musste, sehr weh. »Billy Blake sagt, er hätte keine Freundin.«
Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. »Vielleicht hatte er Angst, es zuzugeben.«
»Ich habe mit seinem älteren Bruder gesprochen«, fuhr Dan fort. »Er hat mir gesagt, dass das einzige Mädchen, mit dem er Billy in letzter Zeit gesehen hat, Helen hieß.«
»Aber das bin ich«, sagte ich, als ob das alles erklären würde.
Cathy gab einen Laut von sich, als würde sie vor lauter Frust gleich Dampf ausstoßen. »Warum sollte er dich Helen nennen?«
Ich wusste, dass ich ihnen nicht die Wahrheit sagen konnte, sonst würden sie mich auf der Stelle in eine Anstalt einweisen lassen. Die Niederlage schloss sich immer enger um meinen Brustkorb.
»Knie dich hin«, sagte Dan.
Das kam so unerwartet, dass sich die drei Worte wie ein einziges anhörten.
»Auf die
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