Silbernes Band (German Edition)
Rúna-Tempo, Dóra hatte also keinen Grund, sie schräg anzusehen.
Für Heiðar war es der erste Arbeitstag nach Kristíns Beerdigung. Viele seiner Kollegen fragten ihn nach seinem Befinden. Es war ihm zwar etwas lästig, aber er wusste, dass sie es gut meinten. Er hatte vor, heute nach der Schule bei Fionn vorbeizugehen, um ein Hühnchen mit ihm zu rupfen. Diesmal durfte er es nicht auf einen Kampf hinauslaufen lassen. Vermutlich kam er aber nicht darum herum, seinen Anspruch zu erklären. Die Vorstellung, Rúna als sein Eigentum zu bezeichnen, fand er furchtbar. Lieber wollte er mit Fionn über das Spenderblut sprechen. Es wäre sinnvoll, schon bald damit zu beginnen, bevor sein Durst zu gross wurde. Fionn konnte ihn bestimmt beraten, wie das ablief mit dem Besellservice und was die geeignete tägliche Menge war. „Zu Risiken und Nebenwirkungen befragen sie ihren Vampir-Vater“, dachte er mit einem Anflug von Sarkasmus.
Kristíns Nachlass musste er auch noch regeln, was aber keine komplizierte Sache sein sollte. Er war der einzige Sohn und seine Mutter war nie eine vermögende Frau gewesen. Sie arbeitete viele Jahre lang in der Buchhaltung einer Süsswarenfabrik und hatte schon immer in der kleinen Dreizimmer-Wohnung an der Miklabraut gelebt. Die Wohnung musste er auch noch räumen, wollte sie anschliessend verkaufen. Er plante, morgen nach der Arbeit vorbeizugehen, um einen ersten Augenschein zu nehmen.
Der Schultag ging erstaunlich schnell vorbei. Seine Schüler waren heute ziemlich pflegeleicht, was vielleicht daran lag, dass er sich besser fühlte. Er war geduldiger, das übertrug sich gleich auf die Klasse. Nach Unterrichtsende fuhr er direkt in die Innenstadt, wo er in der Nähe des Hotels parkte.
Fionn erwartete ihn bereits. Heiðar bemühte sich, ihm ruhig gegenüber zu treten. Sie musterten einander, Heiðar nickte knapp, dann setzten sie sich. Fionn verzog keine Miene. Er war ein Meister darin, keine Gefühle zu zeigen. „Du hast es wieder getan, hast dich einfach über meine Wünsche hinweggesetzt. Rúna hatte schreckliche Angst! Du hättest die Beherrschung verlieren können!“ Heiðar zügelte mühsam seine Wut, seine Augen blitzten, und er ballte die Fäuste. Fionn blieb gelassen. „Ich hoffe, ihr konntet die Angelegenheit klären. Wird sie bei dir bleiben?“ Heiðar nickte stirnrunzelnd. „Ich habe ihr alles gesagt und ihre Fragen beantwortet. Ich glaube, sie will bei mir bleiben. Aber du lenkst ab, bitte erkläre dich!“ – „Gut, wie du möchtest. Ich habe Rúna gebeten mit mir zu sprechen, weil ich befürchtete, dass sie jemandem von deinen „Eigenheiten“ erzählen könnte. Es wäre von Vorteil, wenn die beiden jungen Männer deine Gefährtin nicht immer wieder trösten müssten.“ Heiðar blickte ihn erstaunt an. „Woher weisst du...“ Fionn lächelte amüsiert: „Da du dich nicht um sie gekümmert hast, bin ich ihr am Montagabend gefolgt. Ich war erleichtert darüber, dass sie nach Hause ging. Es war herzzerreissend, wie dieser Freund sie getröstet hat. Der Andere hat gekocht und gebacken, eine richtige Familienidylle. Das Risiko, dass sie zuviel über dich erzählen könnte, war mir zu gross. Zudem hat der Blonde Rúnas Verletzung bemerkt. Er ist ein kluges Kerlchen, hat gleich die richtigen Schlüsse gezogen und unangenehme Fragen gestellt.“ In Heiðars Gesicht trat blankes Entsetzen. „Keine Sorge, ich habe die beiden Männer davon überzeugt, keine weiteren Nachforschungen anzustellen. Sie interessieren sich nicht mehr für Rúnas Blessuren. Ich allerdings schon. Was ist passiert?“
Heiðar barg verzweifelt das Gesicht in den Händen: „Ich träumte. Kristín wollte Rúna mit sich nehmen. Im Schlaf versuchte ich sie zurückzuhalten, dabei habe ich zuviel Kraft aufgewendet...“ Er war den Tränen nahe, sah wieder Rúnas angsterfülltes Gesicht und die hässlichen Blutergüsse vor sich. „Ich habe Angst, dass so etwas wieder passiert. Was soll ich tun?“ – „Du wirst in Zukunft dafür sorgen, dass du im Gleichgewicht bist, was bedeutet, dass du den Durst und die Unrast nicht zu stark werden lässt. Nun lass mich vom gestrigen Abend erzählen: Angesichts der heiklen Umstände fühlte ich mich verpflichtet, Rúna auf die Sprünge zu helfen und holte sie deshalb von der Arbeit ab. Sie hat mich freiwillig begleitet, leider musste ich aber etwas deutlich werden, um ihr klar zu machen, was ich bin. Ich sprach es nicht direkt aus, denn das könnte
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