Silbernes Band (German Edition)
Beamte der Zürcher Kantonspolizei am anderen Ende der Leitung bedankte sich für die Mitteilung. Er bat Leo, die Fundstelle am Wegrand zu markieren, damit der zuständige Jagdaufseher nicht unnötig lange nach dem Kadaver suchen musste. Leo wurde aufgefordert, Namen, Adresse und Telefonnummer anzugeben, damit man ihn für allfällige Rückfragen kontaktieren konnte. Das gefiel ihm nicht besonders, fast bereute er, den Fund gemeldet zu haben. Nachdem er den Anruf beendet hatte, überlegte er, wie er die Fundstelle markieren sollte. Er könnte einfach einen roten Hundekotbeutel an einen Strauch binden. Nein, auf keinen Fall, dann war er ja gleich als Hundehalter entlarvt! Er kramte in der Hosentasche nach seinem blauen Taschentuch. Es war nicht mehr ganz sauber, würde aber seinen Zweck erfüllen. Leo führte seinen Hund auf gerader Linie zum Weg zurück und knotete das Taschentuch an einen Haselstrauch. Dann nahm er eine Handvoll Schnee und säuberte Arcos blutverschmierte Schnauze so gut es eben ging. „Komm Arco, lass uns nach Hause gehen!“ Leo Huber hatte es eilig.
Simon Furrer erhielt umgehend Meldung vom Kadaverfund. Er fuhr gleich los, um das tote Reh zu bergen. Gemäss Auskunft der Polizei hatte ein Spaziergänger das Tier im Dickicht gefunden. Hoffentlich war die Stelle markiert. Simon bog in den Weg ein, den man ihm genannt hatte. Tatsächlich, da vorn flatterte etwas Blaues. Er parkte am Wegrand und ging von der Markierung ausgehend in den Wald hinein. Das tote Tier lag etwa einhundert Meter von der Strasse entfernt. Simon fluchte leise. Ausgerechnet eine Rehgeiss! Was auf einen Schlag den Verlust von fünf Tieren bedeutete. Das Muttertier führte normalerweise zwei Kitze, die im letzten Frühjahr geboren waren, dazu kamen die beiden Föten, die nächstes Jahr zur Welt kommen sollten. Die nun mutterlosen Jungtiere waren noch nicht so weit, um selbständig durchs Leben zu gehen. Ohne die Führung des erfahrenen Alttieres würden sie kaum gut durch den Winter kommen. Das bedeutete, dass sie allmählich verkümmerten, was ihre Chancen auf ein langes Leben erheblich reduzierte. Für gewöhnlich musste man solche Tiere zum Abschuss freigeben.
Er besah sich den Kadaver und die Fundstelle genauer. Im frisch gefallenen Schnee waren Abdrücke von Hundepfoten zu sehen, dazu die Spuren des Spaziergängers, der den Fund gemeldet hatte. Simon schüttelte missbilligend den Kopf. Vermutlich hatte der freilaufende Hund das Reh gefunden und sich an dem Kadaver gütlich getan, nachdem bereits ein Fuchs den Bauchraum eröffnet hatte. Er wollte feststellen, ob das Tier Opfer eines Autofahrers geworden war. Oft schleppten sich schwer verletzte Tiere ins schützende Dickicht, wo sie elend zugrunde gingen, wenn die Kollision nicht gemeldet wurde. Er strich die Schneedecke vom Kadaver und stutzte: Die Kehle des Rehs war übel zugerichtet, im graubraunen Fell klebte eingetrocknetes Blut. Ob ein Luchs ins Revier eingewandert war? Oder war der Täter doch ein jagender Hund? Abgesehen vom tödlichen Biss war das Raubtier manierlich umgegangen mit seinem Opfer. Keine der Gliedmassen war gebrochen, Brustkorb, Rückgrat und Hüfte schienen ebenfalls unversehrt. Merkwürdig. Im dichten Winterfell war kaum feststellbar, welches Raubtier zugebissen hatte. Simon griff zum Jagdmesser und zog routiniert das Fell ab, um die Bissspuren eingehender studieren zu können. Der schlanke Hals war richtiggehend zerfetzt, Simon konnte unmöglich bestimmen, welches kräftige Gebiss der armen Rehgeiss den Tod gebracht hatte. Eine genauere Untersuchung kam aus Kostengründen nicht in Frage. Seufzend zog er das tote Tier an den Hinterläufen zum Wagen und lud es in eine Wanne, die er für solche Zwecke stets dabei hatte. Die Wanne hievte er ins Auto und fuhr damit zur Sammelstelle für Tierkadaver.
Am folgenden Tag erhielt Simon Furrer einen weiteren Anruf. Schon wieder ein totes Reh! Das Tier, ein junger Rehbock, wies dieselben rätselhaften Verletzungen auf. Simon besah sich nochmals den Kadaver der toten Rehgeiss und verglich die Bissspuren miteinander. Hier war eindeutig dasselbe Raubtier am Werk gewesen. Bloss welches? Er meldete die mysteriösen Funde bei der kantonalen Jagdverwaltung. Falls noch weitere Reviere betroffen waren, würde bestimmt eine genauere Untersuchung eingeleitet.
Montagabend strahlte das Schweizer Fernsehen eine Vermisstmeldung aus: Die dreissigjährige Angelika Zingg hatte in der Nacht von Freitag auf Samstag, gegen
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