Silbernes Band (German Edition)
fest, Rúna!“ Heiðar warf sie mit Schwung auf seinen Rücken, hakte seine Arme in ihren Kniekehlen fest und wartete, bis sie ihre Hände um seinen Hals geschlungen hatte. Dann ging es los, quer durch die Heide über die weiss gezuckerten, buckligen Wiesen. Rúna schrie wie am Spiess. „Nicht so schnell, mir wird schlecht!“ Er verlangsamte sein Tempo und hörte auf, über Gräben und flechtenbewachsene Steine zu springen. Ein blonder Blitz überholte sie. Fionn raste in atemberaubendem Tempo auf einen Hügel hinauf und erwartete sie dort mit strahlender Miene. Was für ein Spass, wenn man zufälligerweise unsterblich war! Rúnas menschlicher Magen fand die ganze Sache nicht so toll. „Lass mich runter, ich muss gleich kotzen.“ Sie wurde sachte abgesetzt und kriegte einen zärtlichen Kuss auf den Mund, bevor Heiðar seinem Vater hinterhersetzte. Rúna beobachtete mit Schrecken, wie er ungebremst auf Fionn prallte, wie sie einander packten und zu ringen begannen. Die einzelnen Bewegungen konnte sie gar nicht richtig mitverfolgen, da sie in unglaublichem Tempo miteinander kämpften, aber sie hörte deutlich das wilde Knurren und Fauchen. Fionn zeigte mal wieder, dass er auch anders konnte, als den perfekten Gentleman zu geben. Mit seinem Sohn ging er nicht gerade zimperlich um. „Heiðar!“ Ihr Gefährte wurde mit voller Wucht durch die Luft geschleudert, segelte den Hügel hinunter und krachte in einen breiten Graben, der mitten in der Heide aufklaffte. Rúna erwartete eigentlich, dass er jeden Moment aus dem Graben sprang, doch es blieb still.
Fionn blickte triumphierend vom Hügel herunter. „Sag mal, spinnst du!“, fauchte sie fuchsteufelswild in seine Richtung. Die Arme seitlich ausgestreckt wie eine Balancierstange, hüpfte sie gewandt über die schneebedeckten Buckel, um so schnell wie möglich zu der kleinen Schlucht zu gelangen. Der Graben war etwa fünfzehn Meter lang und bestimmt vier Meter tief, gespickt mit gefährlichen Steinspitzen, die überall aus dem Schnee aufragten. Sie sah bloss ein Paar seltsam verdrehte Beine, die hinter einem Felsen hervorlugten. Zwei Schritte näher und sie sah seinen ganzen Körper. Er lag reglos im Graben, hatte die Augen geschlossen, die Arme angewinkelt über dem Kopf. „Heiðar!“ Sie musste sofort zu ihm. Fionn grinste immer noch blöde von seinem Hügel herunter. Wenn man einmal die Hilfe eines Vampirs brauchte, war er natürlich nicht zur Stelle!
Die Grabenwand wies mehrere Felsvorsprünge auf, wo sie runterklettern konnte. Rúna drehte sich um und liess sich auf die Knie fallen, rutschte dann vorsichtig über die Felskante und suchte Halt auf den glitschigen Trittstufen. Das Profil ihrer Wanderstiefel und ihre klammen Hände liessen sie zum Glück nicht im Stich. Tritt um Tritt gelangte sie nach unten, aber es ging einfach viel zu langsam. Im Graben rührte sich noch immer nichts, keine Bewegung, kein Stöhnen. Als sie kurz über die Schulter nach unten blickte, sah sie bloss die unverändert verdrehten Beine. Sie musste ruhig bleiben, durfte auf keinen Fall in Panik geraten. Ihr wurde ein bisschen schwindlig, als sie den Kopf etwas zu schnell wieder zur Wand drehte, um weiter nach unten zu klettern. Sie suchte nach der nächsten Trittstufe, bloss war da keine mehr. Der blonde Bergkönig war ebensowenig in Sicht. „Hilf mir endlich, du Blödmann!“ Nichts geschah, also musste sie wohl oder übel runterspringen. Bis zum Grund der kleinen Schlucht waren es rund zwei Meter. Wenn sie es schaffte, auf einer moosbewachsenen Stelle zu landen, würde der Sprung wohl glimpflich abgehen. Sie schloss die Augen und liess sich fallen. Bevor sie unten aufschlug, schlang Heiðar von hinten seine Arme um sie und presste gleichzeitig die kühlen Lippen in ihren Nacken. Sie landete sicher auf ihren Füssen, holte aus und wirbelte reflexartig herum. Es klatschte ziemlich laut, als ihre flache Hand auf seine Wange traf. „Bist du noch ganz bei Trost! Mir solche Angst einzujagen!“ Sie stiess ihn wütend von sich, was er mit einem leicht irriterten Blick quittierte. „Tut mir leid, Rúna. Ich dachte, dir ist klar, dass ich mich nicht so schnell verletze. Meine Knochen halten eine Menge aus, und Fionn würde mir niemals wehtun. Er hat seine Kräfte prima im Griff.“ – „Ich habe geglaubt, du bist tot! Mach so was nie wieder, hörst du!“
Ihm wurde heiss und kalt. Seine unüberlegte Showeinlage hatte Rúna bestimmt an ihren verunglückten Bruder erinnert.
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