Silbernes Band (German Edition)
Es ist ein machtvolles Gefühl, wenn ich das Tier anspringe und festhalte, da ich in jedem Fall stärker bin. Wenn ich in seine Kehle beisse und sein Blut trinke, dann werde ich für kurze Zeit Eins mit meinem Opfer. Alle Anspannung fällt von mir ab, und ich fühle, wie die innere Ruhe zurückkehrt.“
Er machte eine Pause und wartete ihre Reaktion ab. Rúna hob den Kopf, um ihn anzusehen: „Ich habe nicht erwartet, dass du so ehrlich bist. So, wie du das erzählst, erinnert es an jagende Raubtiere. Glaubst du, es gibt einen grossen Unterschied zu ihnen?“ Er schien überrascht – und besorgt: „Ich möchte auf keinen Fall, dass du dich vor mir fürchtest. Die Jagd hat nichts mit dir zu tun. Aber ja, es gibt viele Parallelen. Wenn ich jage, dann bin ich ein Raubtier, nichts anderes. Deshalb wäre es sehr gefährlich, wenn Menschen in der Nähe sind. Wenn die Jagd vorbei ist, bin ich wieder im Gleichgewicht. Ich verspüre keinen Durst mehr und bin ganz ruhig, kann mich dann problemlos wieder auf andere Dinge konzentrieren und denke nicht mehr an das Töten.“
Sie nickte stumm. Heiðar sah sich selbst als Raubtier, zumindest dann, wenn er jagte. Sie musste das niemals mitansehen, es wäre viel zu gefährlich für sie. Dennoch war es gut zu wissen, was er dabei fühlte und wie er jagte und tötete. „Was ist mit deinen Schuldgefühlen? Hast du die mittlerweile komplett abgelegt?“ Er lächelte in sich hinein, bevor er antwortete: „Fionn hat mir einmal gesagt, dass es nichts bringt, Schuldgefühle zu haben. Vermutlich hat er Recht, denn ich jage ja nicht bloss zum Spass, sondern weil es eine Notwendigkeit ist. Aber der Moment, wenn das Herz meines Opfers zu schlagen aufhört, wird mich wohl niemals kalt lassen. Ich verspüre Mitleid mit dem toten Tier und fühle mich durchaus schuldig. Den Kadaver werfe ich nicht einfach achtlos zu Boden, sondern lege ihn vorsichtig auf die Erde. Auf diese Weise bedanke ich mich bei dem Tier, dass es sein Leben hergegeben hat, damit ich sein Blut haben konnte. Und ich töte möglichst schnell, um dem Opfer ein langes Leiden zu ersparen.“ Sie entzog sich nicht aus seiner Umarmung, was ihn etwas beruhigte. Ihre Blicke blieben einen Moment im Schweigen verbunden.
„Es ist schön, dass du diesen Tieren Respekt entgegenbringst, und ich hoffe, dass du niemals skrupellos töten wirst. Ich bin froh, dass du mir davon erzählt hast, und ich schätze deine Offenheit. Deine ehrlichen Worte helfen mir, dich besser zu verstehen. Und... es ist nicht so, dass ich mich vor dir fürchte...“ Sie legte ihre Hand an seinen Hals. „Liebe mich, Heiðar.“
Blutiger Schnee
„Arco, bei Fuss!“ Leo Huber spähte angestrengt ins dichte Unterholz. Wo war bloss der verflixte Hund? „Arco!“ Leo liess einen scharfen Pfiff folgen. Vergeblich. Mühsam bahnte er sich einen Weg durchs Dickicht. Da vorn! Das blonde Fell des Retrievers war im verschneiten Wald nicht so leicht zu erkennen. „Arco, bei Fuss!“ Leo stolperte ungeschickt über herumliegende Äste und moosbewachsene Baumstrünke, die unter der Schneedecke nicht zu sehen waren. Seine rote Mütze streifte die tiefhängenden Äste der Sträucher, und er blieb beinahe hängen. Arcos Schnauze war am Boden beschäftigt. Golden Retriever in Fresshaltung. Leo schob ein paar sperrige Äste zur Seite, um freie Sicht auf seinen Hund zu haben. Arco hob den Kopf und schenkte ihm sein freundliches Lächeln. Nase und Lefzen waren blutverschmiert.
„Arco! Was soll das?“ Da lag ein totes Reh. Das Tier war teilweise von Schnee bedeckt, aber Leo konnte deutlich erkennen, dass der Bauchraum aufgerissen war. Blutiger Schnee leuchtete ihm entgegen, und etwas Undefinierbares quoll aus dem toten Körper heraus. Igitt, Arco hatte offensichtlich davon gefressen. „Willst du wohl aufhören!“ Leo stürzte zum Hund, klinkte rasch die Leine ein und zog ihn mit Nachdruck zur Seite. Er überlegte fieberhaft. Das Reh war schon seit einiger Zeit tot, davon zeugte die Schneeschicht auf dem Kadaver. Dennoch könnte man seinen Hund verdächtigen. Leo war jeden Tag in diesem Gebiet unterwegs, man wusste, dass sein Hund selten angeleint war und mit Vorliebe durch den dichten Wald stromerte. Leo hielt nichts von Anleinpflicht. Arco tat keiner Fliege was zuleide, war zur Jagd viel zu behäbig, und er gehorchte. Meistens. Leo seufzte. Besser, er meldete den Fund bei der Polizei. Dass er mit seinem Hund unterwegs war, brauchte niemand zu wissen.
Der freundliche
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