Silbernes Band (German Edition)
Waldboden. Das Reh stiess einen Angstlaut aus und versuchte sich wild strampelnd zu befreien. Heiðar schlug die Zähne in den schlanken Hals und trank gierig das süsse Blut. Der Todeskampf dauerte keine drei Minuten. Die Gegenwehr des Tieres wurde schwächer, sein Herzschlag stolperte und stoppte, die zappelnden Beine erschlafften. Er nahm einen letzten Schluck und löste seine Lippen von der aufgerissenen Kehle. Legte den Kadaver behutsam in den Schnee und strich dem toten Tier über das graubraune Winterfell, folgte dann der Fährte der beiden anderen Rehe, um sich ein weiteres Tier zu holen.
Nach der Jagd lief er einfach noch eine Weile weiter. Er liebte es, durch den nachtschwarzen Wald zu rennen. Die regelmässigen Atemzüge und sein langsamer Herzschlag begleiteten die Stille. Er war ganz bei sich. Die Teile seiner Persönlichkeit fügten sich zusammen, als wären sie aus einem Guss. Mensch und Unsterblicher waren im Gleichgewicht. Der Mensch versuchte nicht, den Unsterblichen hinter einem blickdichten Vorhang zu verbergen. Der Unsterbliche kämpfte für einmal nicht um mehr Macht, er war satt und zufrieden.
Seine Schritte knirschten kaum hörbar im Schnee. Darunter totes Holz und flüsternde Blätter auf erfrorenem Moos. Weiss verhüllte Zweige knackten leise und liessen erschreckt ihr kaltes Gewand fallen, als er sie streifte. Er versuchte Abstand zu halten zu den Bewohnern des Waldes, doch es liess sich nicht vermeiden, dass eine stattliche Hirschkuh und zwei Füchse angsterfüllt das Weite suchten. Ein murmelnder Bach begleitete ihn ein Stück und mündete schliesslich in ein kleines Becken. Er kniete sich an den Rand und schlug sich das eiskalte Wasser ins Gesicht und auf die Brust, um das Blut abzuwaschen. Als er weiterrannte, gefroren die Wassertropfen in seinem Haar zu winzigen Eiskristallen.
Der einsame Parkplatz am Waldrand kam in Sicht. Er verlangsamte sein Lauftempo und zog den Wagenschlüssel aus der Tasche, um schon mal die Fernöffnung zu betätigen. Der Audi gab Lichtzeichen, die Verriegelung klickte. Auf dem Fahrersitz lagen achtlos hingeworfen sein T-Shirt und seine Fleecejacke. Er schlüpfte hinein, klemmte sich hinters Steuer und startete den Motor und das Radio.
Er wünschte sich an Rúnas warmen Körper. Ob sie wohl schon schlief? Oder wälzte sie sich in Schlaflosigkeit, weil sie ständig daran denken musste, warum er in den Wald gefahren war? Bestimmt hatte Fionn ihre trübe Stimmung etwas aufhellen können. Er hoffte, die beiden fröhlich plaudernd im Wohnzimmer vorzufinden, wenn er ins Hotel zurückkehrte. Rúna schien sich ja mittlerweile ganz wohl zu fühlen in Fionns Gesellschaft.
Sein Vater sass allein auf dem Sofa und sah sich einen Film an. Die Lautstärke war fast ganz heruntergedreht, damit Rúna nicht aufwachte. „Hast du dich gut amüsiert mit den Tieren des Waldes?“ – „Für die beiden Rehe war es nicht so amüsant, aber ich fühle mich gut. Und ihr? Hattet ihr einen gemütlichen Abend?“ – „Wir haben uns lange unterhalten. Ich habe mit Rúna über den Jagdtrieb gesprochen. Es ist sehr schwierig für sie, obwohl sie die Jagd für ehrlicher hält.“ Heiðar nickte stirnrunzelnd. „Ich hoffe, sie gewöhnt sich irgendwann daran.“ – „Sie hat keine Wahl. Du kannst unmöglich auf die Jagd verzichten.“ – „Ich muss unter die Dusche, und dann leg ich mich hin. Gute Nacht, Fionn.“ – „Schlaf gut, mein Sohn.“
Heiðar ging nach nebenan. Rúna schlief bereits. Er betrachtete sie liebevoll, ging dann leise ins Bad. Fünf Minuten später schlüpfte er mit nassen Locken zu ihr ins Bett. Er sehnte sich danach, sich mit ihr zu verbinden, wollte, dass auch ihre Liebe wieder ins Gleichgewicht kam. Sich an sie zu schmiegen, um ihre Wärme zu spüren, ihren Herzschlag zu küssen und das Gesicht in die duftigen Locken zu tauchen war ihm sein einziges Bedürfnis. Sie erwachte in seinen fordernden Armen. „Du riechst wunderbar“, flüsterte er an ihrer Kehle und küsste sie. Er liess sie spüren, wie sehr er sie begehrte und fuhr langsam mit der Hand unter ihr T-Shirt, um sie sachte zu streicheln. Heute Nacht schmolz sie nicht unter seiner Berührung dahin. Ihr Körper verkrampfte sich, schweigend entzog sie sich der Umarmung und drehte sich von ihm weg.
Sie war also immer noch verstimmt. Vorsichtig rückte er etwas näher an sie heran, strich ihr dabei sanft über den Arm. Sie liess es geschehen, aber er spürte ihre Anspannung. „Willst du
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