Silbernes Band (German Edition)
überhäufen, sie freute sich wie ein kleines Kind. Später hätte ich viel darum gegeben, das Fest einmal mit dir zu verbringen. Jedes Jahr dachte ich daran, euch heimlich dabei zuzusehen, aber du hättest mich wohl bemerkt, und dann wäre auch deine Mutter auf mich aufmerksam geworden, das konnte ich nicht riskieren.“ Er bemühte sich, seinen Schmerz nicht zu zeigen, dabei konnten die beiden seine Gefühle sehr gut nachvollziehen. Heiðar hatte an unzähligen Geburtstagen und Weihnachten vergeblich auf ein Zeichen seines unbekannten Vaters gehofft, und Rúna wusste, wie es war, wenn plötzlich jemand fehlte. Sie versuchte Fionns Erinnerungen umzulenken. „Wie war das, als du ein Kind warst? Habt ihr auch Weihnachten gefeiert?“ - „Selbstverständlich, obwohl es eher eine nüchterne Angelegenheit war. Weihnachtsgeschenke gab es keine, wir waren eine arme Familie mit sieben Kindern. Einen Weihnachtsbaum hatten wir auch nie, die waren damals noch nicht sehr verbreitet, aber zumindest gab es am ersten Weihnachtstag immer ein schmackhaftes Essen und davon reichlich. Wir Kinder freuten uns jeweils unbändig darauf, für einmal eine schöne Portion Fleisch auf dem Teller zu haben. Etwas, worauf ich heute sehr gut verzichten kann.“
Sie lachten verhalten über den etwas bemühten Witz. „Was ist mit dir, Rúna? Du feierst dieses Jahr zum ersten Mal ohne deine Familie. Irgendwelche nostalgischen Gedanken?“ Er hatte sie längst durchschaut, doch Rúna wollte sich auf Erfreuliches beschränken:
„Eins meiner liebsten Weihnachtsfeste war in jenem Jahr, als meine Schwester Gæfa geboren wurde. Sie war acht Monate alt und krabbelte aufgeregt durchs Wohnzimmer. Wir mussten aufpassen, dass sie nicht nach den brennenden Kerzen griff, und sie interessierte sich mehr für das raschelnde Geschenkspapier, als für die Sachen, die darin eingewickelt waren. Durch ihre Geburt kehrte nach Júlíans Tod das Leben in unser Haus zurück.“
Ihre Erinnerungen führten unweigerlich in jene dunkle Zeit. Eine einsame Träne rollte über ihre Wange, als sie an das erste Weihnachtsfest nach dem tragischen Unglück dachte. Es war schrecklich gewesen. Ihre Eltern versuchten verzweifelt, ihre Traurigkeit nicht zu zeigen, und Rúna hatte sich nach der Bescherung weinend in ihr Zimmer verkrochen, da sie es nicht ertragen konnte. Glücklicherweise waren sie am ersten Weihnachtsfeiertag zu Besuch bei ihren Grosseltern. Grossmutter Ásta war immer ein sehr zuversichtlicher Mensch gewesen. Sie liess ganz einfach nicht zu, dass ihr Sohn Pétur und seine Familie in ihrer Trauer ertranken, schaffte es sogar, der bedauernswerten, kleinen Rúna ein Lächeln zu entlocken, als sie Anekdoten aus ihrer Kindheit in Stykkishólmur zum Besten gab. Wie sie mit ihren Brüdern Helgi und Þórsteinn ein Hákarl-Wettessen machte. Wie sie die Wut des Vaters schilderte, als er entdeckte, dass die drei Kinder fast das ganze Stück des fermentierten Eishais weggeputzt hatten, das draussen am Trockengestell hing. Natürlich war ihnen hinterher schlecht geworden, und sie kriegten alle einen Satz heisse Ohren verpasst. Rúna musste unwillkürlich lächeln bei der Erinnerung an ihre verstorbene Grossmutter, die sie sehr geliebt hatte. Heiðar holte sie in die Wirklichkeit zurück, als er ganz sachte ihre Träne mit dem Zeigefinger auffing und sie zärtlich auf die Wange küsste. Sie wollte auf keinen Fall Schwermut verbreiten und lächelte nochmals tapfer. Heiðar vermisste seine Mutter schliesslich auch und Fionns traurige Augen sprachen Bände.
Heiðar beendete den Erzählreigen: „Mein coolstes Weihnachten war 1986, als ich meine ersten eigenen Schlittschuhe geschenkt kriegte. Sie waren brandneu, aus schwarzem Leder und hatten gelbe Streifen an den Seiten. Ich verbrachte den Rest meiner Weihnachtsferien auf dem Eis, drehte stundenlang meine Runden und musste mich hüten, nicht zu schnell zu fahren. Das war vielleicht ein Spass!“ Die leuchtenden Augen und sein schelmisches Grinsen vertrieben die melancholische Stimmung im Nu. Rúna und Fionn sahen ihn vor sich, wie er mit Feuereifer über den gefrorenen Tjörnin flitzte, sich dabei geschickt zwischen den übrigen Eisläufern durchschlängelte. Sie schmunzelten beide bei dieser Vorstellung und liessen sich gerne von seinen schönen Erinnerungen ablenken.
Im Hintergrund spielte klassische Weihnachtsmusik. Rúna seufzte wohlig und fand, dass es so richtig gemütlich war. Noch vor Kurzem konnte sie sich nicht
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