Silbernes Band (German Edition)
hinten zu sehen war. Was für schöne Locken sie hatte. Das kurze Strickkleid stand ihr ausgezeichnet, dazu die schicken Stiefel. Alles klar. So musste eine Frau aussehen, mit der Heiðar ausgehen wollte. Sie hatte monatelang vergeblich gehofft, dass er sich irgendwann mit ihr verabreden würde, dabei war er immer so freundlich gewesen und hatte stets ein Lächeln für sie übrig gehabt. Wie dumm, sich etwas darauf einzubilden! Viel Zeit wäre ihr nicht mehr geblieben, um die Sache voranzutreiben. Kristín wurde schon bald entlassen, damit sie zu Hause sterben konnte. Birna würgte tapfer ein paar Tränen der Enttäuschung ab, drehte eilig auf dem Absatz um und stürmte in die entgegengesetzte Richtung, bevor die beiden sie womöglich noch bemerkten.
Rúna und Heiðar waren bei der hellgrünen Tür am Ende des Flurs angelangt. Nach einem aufmunternden Nicken traten sie leise ein. Rúna schluckte. Es roch nach Medikamenten und nach dem Tod, der um die Ecke lauerte. In dem viel zu grossen Spitalbett lag eine magere, kleine Frau, auf dem Kopf trug sie einen türkisfarbenen Turban. Durch die Chemotherapie hatte sie wahrscheinlich sämtliche Haare verloren.
„Heiðar, mein Liebling.“ Kristín lächelte, als sie ihren Besuch erblickte und streckte die zerbrechliche Hand nach ihnen aus. „Hallo Mama. Sieh mal, wen ich heute mitgebracht habe.“ Er küsste ihre Wange und Kristín fuhr ihm liebevoll durchs Haar: „Wie schön, dass ihr da seid!“ Rúna trat näher und wartete, bis Heiðars Mutter sie ansah. „Du musst Rúna sein. Keine Angst, ich beisse nicht.“ - „Hallo Kristín. Freut mich, dich kennenzulernen.“ Kristín fasste sie sanft am Arm und zog sie zu sich herab, um ihr einen leichten Kuss auf die Wange zu drücken. Rúna erwiderte den Kuss etwas überrascht und lächelte. Was für wunderschöne hellblaue Augen seine Mutter hatte. In Heiðars Wohnung hingen Fotos von ihr, sie war eine sehr attraktive Frau gewesen. Er hatte ihre dunkelbraunen Locken und die vollen Lippen geerbt.
Er legte eine Tüte vom Supermarkt auf den Nachttisch. „Hier sind Kekse und ein paar Vitamine.“ Kristín nickte ihm zu, wandte sich dann mit leiser, brüchiger Stimme an Rúna: „Heiðar hat mir von dir erzählt. Er ist ganz verrückt nach dir!“ Sie zwinkerte verschwörerisch, für einen winzigen Moment war ihre Krankheit wie weggeblasen. Rúna lachte verlegen. „So? Hat er das? Ich hoffe doch, er hat dir die schrecklichen Dinge verschwiegen!“
Es klickte gleich bei den ersten Worten. Dieser Krankenbesuch würde nicht peinlich und verkrampft werden. Es war leicht, sich mit Heiðars Mutter zu unterhalten. Obwohl sie todkrank war und obwohl sie sich nie zuvor gesehen hatten. Kristín nahm Rúnas Bemerkung auf: „Was denkst du? Ich habe ihn natürlich gezwungen, mir deine dunklen Geheimnisse zu verraten!“ Sie lachten. Rúna fiel auf, wie schwach Kristín war. Das heisere, kaum hörbare Lachen schien ihr zuzusetzen. Heiðar füllte ein Wasserglas und hielt es ihr hin. Mühsam trank sie zwei Schlucke. „Möchtest du dich setzen?“ Er zog einen Stuhl ans Bett und bot ihn Rúna an. Sie liess sich vorsichtig darauf nieder. Er blieb dahinter stehen, legte seine Hände auf ihre Schultern und strich behutsam darüber.
„Du bist bestimmt gespannt darauf, wie Heiðar als Kind war. Ist es nicht das, was Mädchen über ihren Freund erfahren wollen?“ Rúna nickte verschmitzt, während Heiðar schon mal gequält die Augen verdrehte. „Er war wirklich ein aufgeweckter kleiner Lausbub, mein Heiðar. Als er noch ein Baby war, versuchte er immer davonzukrabbeln, wenn ich ihn anziehen wollte. Er mochte es gar nicht, Kleidung zu tragen. Und flink war er! Ich musste mich ganz schön sputen, um ihn zu erwischen, bevor er auf den Boden pinkelte.“ Heiðar mochte nicht in ihr Lachen einstimmen.
„Hat er dir von seiner Leidenschaft für Bücher erzählt? Das fing schon ziemlich früh an. Heiðar konnte bereits mit drei Jahren fehlerfrei lesen. Er las alles, was ihm in die kleinen Finger kam, ich musste jede Woche neue Bücher ausleihen. Als er alle Kinderbücher in- und auswendig kannte, hat er sich einfach meine Bücher geschnappt. Ich musste aufpassen, was ich rumliegen liess, damit er nichts las, was für ein Kind ungeeignet ist.“ – „Dann hat er mich wohl mit Absicht ausgesucht. Schliesslich arbeite ich in einer Buchhandlung.“ Heiðar grinste: „Klar, mein Schatz, du bist mein Literatur-Dealer, der mir Nachschub zum
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