Silbernes Band (German Edition)
etwas Schreckliches stossen und habe Angst, dass ich ihn dann vielleicht nicht mehr lieben kann.“ Kristín nickte. „Glaub mir, ich weiss was du fühlst. Die Entscheidung, ob du mit seinem Geheimnis leben kannst und ob du weiterhin mit ihm zusammensein möchtest, kann ich dir nicht abnehmen. Geistig und körperlich ist bei ihm alles in Ordnung, er ist gesund und ein guter ...Mensch. Ich habe mich bemüht, dass er seinen Platz findet, doch er tut sich schwer. Das Geheimnis quält ihn. Es ist ein Fluch, den er von seinem Vater geerbt hat. Er würde wohl alles geben, um dem zu entkommen. Und ich weiss, dass er dir niemals etwas antun würde. Wenn er bereit ist, wird er dir davon erzählen.“
Rúna übte sich in Zuversicht. „Dann warte ich, bis er mir vertraut.“ Kristín nickte erleichtert. Sie war erschöpft nach dieser langen Rede und atmete schwer. Rúna reichte ihr nochmals etwas Wasser, das sie in winzigen Schlucken trank. Sie wirkte wie ein sterbender Vogel und hatte offenbar starke Schmerzen. Heiðar würde bald seine Mutter verlieren, was dann? Was, wenn sie ihn auch verliess, weil sein Geheimnis zu schrecklich war? Wer war sein Vater? Kein Wunder, dass er nicht über ihn sprechen wollte. Kannte er ihn überhaupt? Sie wagte nicht, Kristín danach zu fragen, wollte Heiðar in einem günstigen Moment nochmals darauf ansprechen. Wenn sein Vater diesen Fluch vererbt hatte, dann war er auch der Schlüssel zum Geheimnis.
Die Tür öffnete sich. Heiðar trat mit lautlosen, federnden Schritten ein, in der Hand eine Tüte mit den gewünschten Sachen. Er legte das Buch auf den Nachttisch und hängte die Strickjacke über einen Stuhl. „Kaffee und Kekse?“ Beide nickten, also goss er flink drei Tassen ein. Rúna gab die Kekse auf einen Teller, schälte eine Mandarine und bot Kristín die Schnitze an. Während sie das dünne Gebräu tranken, Kekse und Mandarinen naschten, erzählten Rúna und Heiðar von der heutigen Wanderung, bloss die Begegnung mit den Elfen liessen sie aus. Sie sprachen über Rúnas Arbeit in der Buchhandlung und schilderten Kristín das Missverständnis mit Snorri. Aus heutiger Sicht betrachtet, fand Heiðar seinen Irrtum beinahe amüsant. Dennoch würde er niemals vergessen, wie verzweifelt er war, als er glaubte, keine Chance bei Rúna zu haben.
Gegen Fünf verabschiedeten sie sich herzlich voneinander. „Ich komme bald wieder“, versprach Rúna und küsste Kristín auf beide Wangen. „Bis bald Mama.“ Heiðar drückte kurz seine Lippen auf ihre Stirn. Sie tauschten einen zustimmenden Blick, waren sich einig, was Rúna anbelangte. Dass sie die richtige Frau war für ihn. Kristín blickte ihnen lächelnd hinterher, wie sie Hand in Hand zur Tür gingen, dann fiel ihr noch etwas ein: „Heiðar. Kannst du Fionn bitten, vorbeizukommen?“ Er reagierte reichlich irritiert auf ihre unerwartete Bitte. „Ja.. klar, das kann ich machen.“ Vor Rúna wollte er nicht näher darauf eingehen, weshalb er nicht weiter nachfragte. „Ciao, Mama.“ Rúna winkte, als sie gemeinsam mit Heiðar das Zimmer verliess.
Die kleine Braune
Heiðars Wagen rollte langsam auf den Parkplatz vorm Stallgebäude. Wie kam er bloss dazu, sie hierher zu begleiten? Was für eine hirnrissige Idee! Sie stiegen aus. Rúna wollte ihn mit sich ziehen. „Komm! Du musst erst mein Pferd kennenlernen!“ Er blieb stehen. „Ich gehe nicht in den Stall oder in die Nähe eines Pferdes.“ – „Warum nicht? Sie sind nicht gefährlich. Wir haben keine Pferde, die beissen oder schlagen - die landen alle im Kochtopf.“ Er lachte nicht über ihren Witz. „Nein, Rúna. Es bleibt dabei. Glaub mir, es gibt gute Gründe.“ Seine Sturheit irritierte sie. „Okay. Wir sprechen nachher darüber, ich komm sonst zu spät zur Reitstunde.“ Sie wandte sich ab und ging zum Stallgebäude hinüber. Im Paddock davor hielten sich einige Pferde auf. Um Rúna begreiflich zu machen, weshalb er unmöglich auf Tuchfühlung mit ihrem Pferd gehen konnte, trat er ein paar Schritte näher. Als ein Windstoss seinen Raubtiergeruch zum Paddock wehte wurde die kleine Herde schlagartig unruhig, die Tiere schnaubten aufgeregt und rasten im Pulk von einer Seite der Umzäunung zur anderen, fanden aber keinen Ausweg.
Rúna fuhr alarmiert herum. Sah, wie die Pferde durch den groben Kies stoben, wie Heiðar sich daraufhin rasch von ihnen entfernte und wie die Tiere sich allmählich wieder beruhigten. Die Pferde hatten offensichtlich grosse Angst vor ihm.
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