Silbernes Band (German Edition)
Manchmal konnte er es kaum aushalten und musste sich mit aller Macht ablenken. Ein Haufen aufbegehrender Teenager war allerdings keine geeignete Ablenkung. Er seufzte. Der Pausengong eilte ihm endlich zu Hilfe, die Schüler packten lärmend und protestierend ihre Sachen zusammen und verliessen das Zimmer. Heiðar rieb sich das Gesicht und stand auf, um das Fenster zu öffnen. Nach dem Unterricht wollte er bei Kristín vorbeigehen, und um halb Sieben konnte er endlich seine Rúna wieder in die Arme schliessen. Sie hatte versprochen, dass sie heute nicht zum Reiten ging, somit hatte er sie den ganzen Abend für sich allein.
Die letzte Stunde war ihm eine der liebsten. Zweimal pro Woche unterrichtete er fremdsprachige Schüler in Isländisch. Zu diesem Zweck hatte Heiðar ein eigenes Lehrmittel verfasst, ergänzt durch jede Menge Übungsblätter und diverse Bücher, die einfach zu lesen waren. Zurzeit bestand diese Klasse bloss aus einem einzigen Schüler. Philipp stammte ursprünglich aus Deutschland, seine Familie war vor drei Monaten nach Island ausgewandert.
„Hast du die Übungen vom letzten Mal?“ Philipp reichte ihm ein vollgekritzeltes Blatt. Heiðar überflog die Seite. „Gab es irgendwelche Probleme mit den Fragewörtern?“ Er sprach langsam und deutlich, und wenn Philipp Mühe hatte, ihn zu verstehen, wechselte er kurzerhand ins Deutsche. „Nein, keine Probleme. Ich konnte alle Aufgaben ... lösen.“ Heiðar lächelte aufmunternd. „Sehr gut. Du machst grosse Fortschritte.“ Er mochte den blonden Jungen, dessen Augen eine ähnliche Farbe hatten wie Rúnas, und war gerne bereit, ihn beim Erlernen der schwierigen Fremdsprache zu unterstützen.
Philipps Blick schweifte über Heiðars Schreibtisch. Er war mit Büchern und hohen Papierstapeln belegt und überall lagen Kugelschreiber und Leuchtstifte verstreut. Auf einem der Stapel trohnte ein angebrochener Riegel Lakritz-Schokolade, dazwischen stand eine halbvolle Wasserflasche ohne Schraubverschluss. Neben dem Schreibtisch, achtlos hingeworfen, ein schwarzer Rucksack, aus dem ein Packen Hefte hervorlugte. Dieser Lehrer war ziemlich chaotisch, aber nett.
„Also, mal sehen...“ Heiðar griff zielgerichtet nach einem der Stapel und zog ein weiteres Übungsblatt hervor. „Versuch diese Aufgaben zu lösen. Wir unterscheiden darin Adjektive bei Nomen mit oder ohne bestimmten Artikel. Also, „ein kleines Pferd“, aber „das kleine Pferd“. Alles klar?“ Philipp nickte und streckte die Hand nach dem Blatt aus. „Wir gehen anschliessend die Übung gemeinsam durch, und wenn noch Zeit bleibt, machen wir zum Schluss ein paar Ausspracheübungen.“ Er reichte dem Jungen das Papier und nickte ihm freundlich lächelnd zu. Philipp verzog sich an einen der Tische und machte sich an die Arbeit.
Familientreffen
Eine Stunde später parkte Heiðar beim Landeskrankenhaus. Fionn erwartete ihn vorm Haupteingang. „Du hier? Warst du bei Kristín?“ – „Ich habe sie gestern bereits aufgesucht. Sie hat mir erlaubt, dich heute zu begleiten.“ Heiðar schluckte. Seine Eltern wollten sich ihm zuliebe für eine Weile zusammenraufen. Er hoffte, dass es keine peinliche „Heile-Welt-Posse“ wurde. Mit gemischten Gefühlen betrat er an Fionns Seite das Gebäude. Fionn wirkte völlig entspannt, ein Ausdruck freudiger Erwartung im Gesicht, als sie sich der hellgrünen Tür näherten. Heiðar klopfte und öffnete.
Kristín sass aufrecht, von Kissen gestützt im hochgestellten Bett. Ihr gelang ein Lächeln, das beide erwiderten. Sie hob ihre Hände und streckte sie ihnen entgegen. „Heiðar, Fionn! Wie schön, dass ihr da seid!“ Heiðar warf seinem Vater einen irritierten Blick zu. Was sollte das? Warum spielte Kristín Theater? Sie brauchte das nicht zu tun, um ihn glücklich zu machen.
„Mein Liebling!“ Sie zog ihn an sich, als er sich zu ihr hinunterbeugte, um sie zu begrüssen. „Hallo Mama. Wie geht’s dir heute?“ Sie lächelte bloss und liess ihren Blick zu Fionn schweifen, der am Fussende des Bettes wartete. Heiðar trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Ihr Lächeln wirkte absolut echt. Sie reichte Fionn die Hände, die er vorsichtig ergriff, liess sogar zu, dass er sie sachte auf die Stirn küsste.
„Nimm dir Kaffee, mein Lieber. Da sind Kekse in der Schublade“, wandte sie sich an Heiðar. „Nein danke. Brauchst du etwas?“ – „Ich bin wunschlos glücklich. Setz dich zu mir.“ Sie klopfte auf die Matratze, also liess
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