Silbernes Mondlicht, das dich streichelt
Name echote durch den großen,
leeren Raum.
Neely wartete, sammelte Kraft und
kämpfte gegen das Bedürfnis an, zu schlafen. »Aidan!« rief sie noch einmal.
»Komm sofort her und hilf mir aus dem Bett, verdammt! Ich muß auf die
Toilette!«
Keine Antwort, nur das hohle Echo
ihrer Stimme.
Neely bot ihre ganze Willenskraft
auf, und es gelang ihr, einen Zentimeter auf die Bettkante zuzurutschen. Sie
wartete einen Moment, dann versuchte sie es noch einmal.
Nach zehn Minuten schwitzte sie so
stark, daß die Laken an ihrer Haut klebten. Sie erreichte die Bettkante,
verbrachte eine kleine Ewigkeit damit zu, ihre Kraft zu sammeln, und unternahm
dann einen weiteren Versuch, das Bett zu verlassen.
Sie landete hart auf dem kühlen
Parkettboden und blieb dort eine Zeitlang benommen liegen, triumphierend, weil
sie es geschafft hatte, und so erschöpft von der Anstrengung, daß sie nicht
sicher war, aufstehen zu können.
Doch der beharrliche Druck auf ihrer
Blase zwang sie, es zu versuchen; sie zog die Knie an, hielt sich an dem antiken
Nachttisch fest und zog sich auf die Knie. Sie blieb stehen, am ganzen Körper
zitternd und tief durchatmend, bis sie es wagte, einen Schritt zu tun.
Zu ihrer Überraschung war das sehr
leicht. Sie ging in das angrenzende Bad, das mit kostbarem italienischem Marmor
gekachelt war, benutzte die Toilette und schlang ein Badetuch um ihre
Schultern, bevor sie in das geräumige Schlafzimmer zurückkehrte.
Hohe Fenster mit eingebauten
Sitznischen, die einen herrlichen Blick auf den verschneiten Garten boten,
bedeckten zwei Wände der Suite. Die Schränke, Kommoden und Truhen enthielten
ein beachtliches Sortiment männlicher Kleidungsstücke. Der Raum verfügte über
einen eigenen Kamin, der mit unschätzbar wertvollen, handbemalten Kacheln
verkleidet war, und hier und dort bedeckte ein exquisiter Perserteppich den
glänzenden Parkettboden.
Neely ging in die Halle weiter. Sie
war hungrig, und ein bißchen Aufmunterung durch ihren geheimnisvollen
Gastgeber hätte ihr auch nicht geschadet.
»Aidan?«
Keine Antwort.
Sie öffnete die Doppeltüren des
Zimmers gegenüber von Aidans und entdeckte eine zweite Suite, die fast so groß
und prächtig war wie jene, die sie gerade verlassen hatte. Hier waren die
Schränke jedoch leer und damit ihre Hoffnung, etwas zum Anziehen zu finden,
zerstört. Sie kehrte kurz in Aidans Schlafzimmer zurück, um eins von seinen
handgefertigten weißen Hemden anzuziehen, dann trat sie wieder in die Halle
hinaus und ging auf die hintere Treppe zu.
Am Fuß dieser Treppe befand sich eine
Küche, groß, tadellos aufgeräumt und sauber. Die Regale der Schränke und der
Vorratskammer waren leer, nicht einmal Staub war darauf zu sehen, und
nirgendwo gab es Teller, Gläser oder Besteck.
Ob Vampire essen? fragte sich Neely.
Ihre Umgebung wurde ihr immer gespenstischer.
Sie ging weiter, um den Rest des
grandiosen Hauses zu erforschen. In Filmen wäre es voller Spinnweben und Staub
gewesen, vermutete sie, doch statt dessen war es makellos rein wie die
Kommodenschublade einer Nonne. Die riesigen Kristallüster blitzten, die
Teppiche und Böden fühlten sich sauber unter Neelys nackten Füßen an, und die
Wände waren mit Gemälden alter Meister bedeckt.
In Aidans Bibliothek, dem einzigen
Teil des Hauses, in dem sie schon gewesen war, lagen dicke Stapel von Papieren
auf dem Schreibtisch, und Bücherregale zogen sich an allen vier Wänden vom
Fußboden bis zur Zimmerdecke hoch.
Neely hob die Spieldose auf, die sie
bei ihrem letzten Besuch entdeckt hatte, drehte den Bronzeschlüssel herum und
öffnete den Deckel.
Unerträglich traurige Musik drang
aus dem winzigen Mechanismus und löste Gefühle in ihr aus, die Neely nicht zu
deuten verstand. Heiße Tränen brannten in ihren Augen, als sie in einem
einsamen Tanz durchs Zimmer schwebte, verzaubert von der fremdartigen Musik.
Während sie noch tanzte, sammelte sich das Zwielicht vor den hohen Fenstern,
und schwere Schneeflocken fielen herab.
»Was für einen starken Willen du
haben mußt«, sagte Aidan und erschreckte Neely damit so sehr, daß sie stolperte
und fast die Spieldose fallengelassen hätte.
In einem schwarzen Mantel, dunklen
Hosen, einem weißen Hemd und Krawatte, stand er in der Tür. Schneeflocken
glitzerten auf seinem ebenholzschwarzen Haar und auf seinen Schultern.
Neely starrte ihn an, für einen
Moment zu betroffen, um etwas zu erwidern.
Aidans sinnlich schöner Mund verzog
sich zu einem nachsichtigen
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