Silbernes Mondlicht, das dich streichelt
Gegenwart
sich wie Nebel auf seinem Körper ausbreitete.
Lisette! dachte er bestürzt.
Und da hörte er sie lachen. Du
erinnerst dich also an mich? trillerte sie, und ihre helle Stimme schien
aus seinem eigenen Kopf zu kommen. Ist das nicht rührend?
Da er mehrere Wochen geschlafen
hatte, zu tief versunken in seine Trauer, um zu jagen, war Valerian sehr
schwach. Seine Kraft hatte sich erschöpft; er besaß keine Möglichkeit, sich zu
verteidigen.
Was hast du mit mir vor? fragte er. Wir waren nie
Geliebte, niemals Freunde.
Du hast Aidan gegen mich aufgehetzt, antwortete Lisettes
Stimme, brannte sich in Valerians Gehirn wie ein glühendes Eisen. Du hast
ihn geliebt — wage ja nicht, das zu bestreiten!
Valerians Seufzer war nicht
körperlich, er stieg aus den Tiefen seiner Seele auf. Ich streite nichts
ab, schon gar nicht meine Zuneigung zu Aidan. Ich wäre für ihn gestorben.
Wie dramatisch, Valerian. Und
sterben wirst du in jedem Fall. Einen schrecklichen Tod, mein Lieber.
Mach mit mir, was du willst, erwiderte Valerian, aber laß
Aidan in Ruhe! Du hast ihm bereits geraubt, was am kostbarsten für ihn
war — seine Menschlichkeit. Wie kannst du noch mehr verlangen?
Die gesamte übernatürliche Welt
schien zu erbeben unter der Wildheit von Lisettes Zorn, und ihre letzten Worte
schallten durch Valerians wunde Seele: Ich verlange soviel, wie ich will.
Und ich lasse mich nicht abweisen ...
Fünfzehn
Neely erwachte mit einem merkwürdigen
Gefühl der Unwirklichkeit. Sie konnte kaum glauben, daß Aidan sie in der Nacht
zuvor besucht hatte, und fürchtete, die Begegnung könnte nur ein Traum gewesen
sein. Aber ob Traum oder Wirklichkeit die Erfahrung hatte ein wundervolles
Wohlbehagen in ihr zurückgelassen, und sie war bereits auf, als Mrs. F.
anklopfte und ihr das Frühstück brachte.
Die Haushälterin betrachtete den
neuen Rock und Pullover, den Neely trug, und lächelte. »Sehr hübsch«,
bestätigte sie. »Werden Sie heute ausgehen?«
Neely nickte. Sie wollte wenigstens
ein Museum aufsuchen, bevor sie zu ihrer Lunchverabredung mit Wendy Browning
und ihrem Freund Jason ging.
Mrs. F. stellte das Tablett ab und
schaute zum Fenster, vor dem sich graue Nebelwolken ballten. »Typisches
Londoner Wetter heute«, bemerkte sie. »Ziehen Sie sich warm an, Miss. Der
englische Wind ist so kalt, daß er durch alle Kleider dringt.«
Neely versprach es. Irgendwie hatte
sie heute das Gefühl, daß sich alles zum Guten wenden würde, obwohl sie selbst
nicht begriff, woher diese Überzeugung kam.
Als Neely das Haus verließ, um ein
wartendes Taxi zu besteigen, vermischte sich der Wind mit eisigem Regen, und
der dunkelgraue Himmel verhieß Schnee. Die Fahrt in die Innenstadt war
anstrengend, wegen der engen, gefährlichen glatten Straßen, und Neely war
froh, als sie schließlich vor einem berühmten Kunstmuseum ausstieg.
Sie bezahlte rasch den Fahrer, eilte
die salzbestreuten Eingangsstufen hinauf und blieb in der Halle stehen, um mit
beiden Händen ihre halb erfrorenen Ohren zu massieren.
»Guten Morgen«, grüßte eine
grauhaarige Frau hinter einem Podium. »Wir bitten all unsere Besucher, sich in
unser Gästebuch einzutragen.«
Neely nickte, überreichte ihr den
Eintrittspreis und setzte ihre Unterschrift in das Buch. Als sie den ersten
Ausstellungsraum betrat, war sie so entzückt, daß sie für eine Weile alles
andere vergaß. Es war lange her, seit Neely zum letztenmal ein Museum besucht
hatte, und während sie von Saal zu Saal ging, merkte sie nicht einmal, wie die
Zeit verstrich.
Als sie endlich auf die Uhr schaute,
blieben ihr noch knappe zwanzig Minuten, um Willy-Nilly zu finden, wo
sie mit Wendy und Jason verabredet war. Aber Neely beeilte sich trotzdem nicht,
weil sie unbedingt noch einige Wandteppiche sehen wollte.
Die ersten drei waren recht simpel,
stellten plumpe, rotwangige Mädchen mit fließendem Haar und Blütenkronen dar,
die mit Einhörnern, Engeln und Feen spielten. Beim vierten Werk allerdings
stellte sich Neely verwundert auf die Zehenspitzen.
In stummer Faszination starrte sie
zu dem fast drei Meter hohen und fünf Meter breiten handgewebten Teppich auf.
Er stellte eine schöne dunkelhaarige Frau dar, ganz eindeutig Maeve Tremayne,
eingehüllt in das weite Cape eines gutaussehenden Vampirs, der kein anderer
als Valerian sein konnte.
Den Hintergrund bildete ein Schloß oder
ein altes Kloster, umgeben von einem Eichenwald, der so realistisch dargestellt
war, daß sogar die zarten
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