Silberschweine
Was ich im Leben brauchte, war ein zugängliches Fräulein mit einer Blume hinter dem Ohr, das anfing zu kichern, wenn ich ihr meine Gedichte vorlas. Helena hätte ich niemals aus meinen Dichtungen vorgelesen. Sie hätte sie selbst gelesen und dabei angestrichen, wo die Rechtschreibung nicht stimmte und der Rhythmus: ich hätte kräftig darüber gemault und es anschließend genauso verändert, wie sie gesagt hatte …
»Da ist noch etwas«, begann sie. Über mein Gesicht breitete sich ein glückliches, wortloses Froschgrinsen. »Der Zoll wird das Lagerhaus in der Granatgasse bald freigeben. Mein Vater will nicht, daß ich hingehe.«
»Die Granatgasse war der Schauplatz eines Mordes. Ihr Vater hat vollkommen recht.«
»Aber ich möchte mich dort unbedingt umsehen –«
»Dann nehmen Sie jemanden mit.«
»Würden Sie mitkommen?«
»Gern. Wann paßt es Ihnen?« Ich sah sie aus großen, verworfenen Augen an, in denen zu lesen stand, daß wir in einem Pfefferlager alle möglichen Dinge tun konnten, die ihre eigene Würze hatten. Helena machte ein strenges Gesicht, und ich räusperte mich. Sie stand auf und wollte gehen.
»Morgen ist der Triumphzug: gehen Sie hin?«
»Wenn es nach mir ginge, nicht – aber die Familie ruft. Kümmern wir uns danach um Ihr Lagerhaus?«
Ich kletterte hinter meinem Tisch hervor und begleitete sie zum Ausgang. Aus Gründen der Tarnung zog ich die Tür bis auf einen Spalt hinter uns zu. Neue Verwirrung: draußen auf dem Treppenabsatz wartete ihr Dienstmädchen.
Manche Mädchen verstehen sich darauf, diskret zu verschwinden, wenn ein Mann die schöne Dame, der sie dienen, küssen will. Aber in gewisser Weise freute mich, daß Helenas Mädchen offenbar nicht damit rechnete, daß ihre Herrin den Wunsch haben könnte, geküßt zu werden. Gleichzeitig fuhr mir der Schreck in die Glieder: was, wenn die Dame den Wunsch gar nicht mehr hatte?
»Naïssa, geh schon hinunter! Ich komme gleich nach«, befahl ihr Helena mit ruhiger Stimme.
Wir lauschten Naïssas Schritten, bis sie die nächste Treppe erreicht hatten. Keiner von uns sagte ein Wort.
Helena hatte sich mir mit betrübtem Gesicht zugewandt. Ich nahm ihre Hand und küßte sie, trat einen halben Schritt näher und küßte ihre andere Hand. Dann zog ich sie an mich und küßte sie auf beide Wangen. Mit einem Seufzer sank sie in meine Arme, und einen langen Augenblick standen wir reglos da, während die Kümmernisse von uns abfielen, so wie die Blütenblätter einer verblühten Rose auf einen Schlag abfallen. Ich hielt und küßte sie noch immer, während ich sie über den Treppenabsatz bis an die Kante der Stufen führte. Dort ließ ich sie los.
Sie ging nach unten. Ich sah ihr nach, bis sie auf die Straße trat. Fünf Minuten später stand ich immer noch da.
Sie hatte meinen Tag verwandelt.
Ich setzte mich wieder an den Tisch und tat, als wäre nichts. In meinem Gesicht brannte die Stelle, wo mich Helena berührt hatte, bevor sie gegangen war.
Meine Mutter wartete schon. Sie hatte oft genug miterlebt, wie ich wieder hereingeschlendert kam, nachdem ich eine Frau unter allerlei langwierigen Gefühlspantomimen an die Tür gebracht hatte. Sie kamen und gingen und waren keine Gefahr für irgend jemandes Seelenfrieden.
Meine Mutter stapfte zu der Bank gegenüber.
»Das ist sie also!«
Meine Herz machte einen Satz. Ich lachte verlegen. »Woher weißt du das? Kennst du sie?«
»Ich kenne dich!«
Ich reckte das Kinn und sah zur Decke; mit halbem Auge entdeckte ich einen neuen Fleck, wo der Regen hereintropfte. Ich stellte mir vor, wie Helena Justina meiner Mutter erschienen war: die feine Haut, der dezente Schmuck, die guten Manieren, die schon fast an das scheinbar schüchterne Auftreten ihres Vaters erinnerten, während gleichzeitig immer auch jene seltsame Mischung aus Entschlossenheit und boshaftem Humor durchschien. Helena Justina, die Senatorentochter, die mit mir ganz sachlich über Honorare und Lagerhäuser sprach, während ihre Augen von dem Glück sangen, das wir geteilt hatten … Jeder wußte, daß ich auf der Suche nach einer Frau wie Marina war: einer unkomplizierten Seele mit einem bißchen Verstand und einem hübschen Gesicht, die etwas vom Haushalt verstand und so viele Freundinnen hatte, daß sie mir nicht ständig im Weg war; sogar ich wußte es.
Ich starrte auf den Tisch und spielte mit einem liegengebliebenen Estragonzweig herum.
»Also gut!« meinte meine Mutter herausfordernd. »Soll ich nun Safrankuchen backen
Weitere Kostenlose Bücher