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Silberschwester - 14

Silberschwester - 14

Titel: Silberschwester - 14 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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gewöhnlicher Wein.
    Jetzt folgte
eine lange Viertelstunde, während derer sie auf der Bank an der Tür saß und die
Priester, die verschleierten Priesterinnen bloß dastanden und sie beobachteten
… Vor ihr war ein dunkler Gang, der etwa eine Speerwurfweite geradeaus lief,
dann nach links bog … Bald, wenn man sie für genügend gebändigt hielte, würde
man sie in ein Labyrinth so gewaltig vielleicht wie das des Minos führen, und
dann hätte sie ihre liebe Mühe, daraus wieder herauszufinden.
    Eine Karte
erschien vor ihrem inneren Auge – eine Karte, die keine Feder je gezeichnet
hatte: Ein Plan des Viertels, viel weiter westlich, wo sie sich bis zum
zwölften Lebensjahr herumgetrieben hatte. Wahrscheinlich war alles verändert,
aber sie sah es noch klar vor sich, wie es gewesen war. Also, wir haben diesen
Tempel von Osten her betreten. Sagen wir, die Stufen, das waren die Häuser
dieser drei Korinther … Der Lotosteich ist dann dort, wo der Kamelmarkt war,
und die Halle wäre der neue Markt plus etwa zwei Häuserreihen, und diese Tür,
durch die wir kamen, ist Philons Backhaus. Dann schauen wir in die
Nadelöhrstraße, die biegt links in die Schlachtergasse, und dann muss ich
einfach sehen.
    Noch mehr
verschleierte Frauen waren gekommen, von irgendwo – inzwischen mussten es zehn
oder zwölf sein … Einige trugen Fackeln, andere trugen Körbe, eine kam mit
einer vergoldeten Holzbüchse, die wie ein Vollmond geformt war, zu Cynthia und
sprach:
    »Sing! ›Ich
bin die Königin des Himmels: Ich bin der Morgenstern.‹«
    »Ich bin die
Königin des Himmels«, wiederholte sie folgsam. »Ich bin der Morgenstern.« Mit
ihrer Stimme würde sie wohl nie ihr Glück machen – aber ein Lied trug sie
wenigstens.
    »›Ich bin die
Mutter allen Lebens‹«, sang die Frau und ging in jenen dunklen Gang, der der
Nadelöhrstraße entsprach, und Cynthia folgte ihr, dabei jede Zeile des Lieds
wiederholend. »›Ich will mich erheben und will durch die Stadt gehen. Ihr
Frauen von Byblos, sagt, habt ihr meinen Liebsten gesehen?‹« Die Fleischergasse
hinab, die Gasse hinter der Goldenen Gans entlang, nun scharf nach rechts, über
die Schwelle der alten Medea …
    Die Frauen vor
ihr hatten angehalten, ringten mit dem Schein ihrer Fackeln etwas auf dem Boden
ein: etwas wie eine Hand. Cynthia bückte sich, hob es auf: eine Hand, die
getrocknete, einbalsamierte, kräftig nach Harz und Myrrhen duftende Hand eines
schon lange toten Menschen – in Stücke gerissen, wie Osiris, und ringsum
verstreut. Eine der Korbträgerinnen nahm ihr den Fund ab und verstaute ihn.
    »›Ich suchte
ihn, den mein Herz liebte. Ich rief ihn, konnte ihn aber nicht finden.‹« Ihre
Augen schwammen in Tränen, und dann nahm die verhüllte Frau sie bei der Hand
und führte sie weiter.
    Der Plan
dieser Komödie war einfach und klar – sie hatte die Rolle von Isis zu spielen,
sang ihre Lieder, unternahm ihre schmerzliche Reise, ihre Suche nach den
vierzehn verstreuten Gliedmaßen, die nur die vierzehn Tage des abnehmenden
Mondes waren. Wenn sie den Trank, den man ihr gereicht, so genommen hätte,
würde sie nun vielleicht die ganze Geschichte selbst glauben.
    Nach den
ersten Richtungsänderungen war ihr alles klar – und es war simpler, als sie
gedacht hatte: Man führte sie dahin, und man führte sie dorthin, aber es lief
bloß auf eine große Doppelschleife hinaus: um die Goldene Gans am einen Ende
und das Haus des Teppichhändlers Xerxes am anderen. Immer, wenn sie über die
Schwelle der alten Medea kam, fand sie da noch ein Körperteil. Sie erkannte
langsam sogar die Wandmalereien wieder: hier ein Mann und eine Frau, beide in
feines Linnen gekleidet, die Hände zum Gebet erhoben, die Frau ein Sistrum
haltend, und dort ein Teich, von Dattelpalmen und Obstbäumen umgeben … Die Luft
war recht frisch: Sie konnten also nicht tief in der Erde sein. Aber nirgends
war etwas von einem Fenster zu sehen oder einem Oberlicht oder Rauchloch, durch
das eine geschickte und entschlossene Person hätte fliehen können.
    Das dreizehnte
Stück war dann der Schädel und das vierzehnte der Unterkiefer. Den Torso dieser
Mumie hatten sie sie nicht finden lassen, vielleicht war er ihnen zu schwer zum
Tragen oder zu groß, um in einem Korb mitgeführt zu werden, bis er gebraucht
würde. Aber er war das Einzige, was noch fehlte, es sei denn …
    Die Priesterin
führte sie jetzt aber einen anderen Weg – an Medeas Haus vorbei in die
Krokodilstraße und da entlang, wo die

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