Silence
ich den Saal. Meine Mutter würde für den Rest meines Aufenthaltes in diesem Gefängnis auf mich verzichten müssen.
So schnell ich konnte, lief ich die Stufen hinunter und war erleichtert, dass es schon recht dunkel war. Im Schutze der Dunkelheit schlich ich mich immer an der grauen Mauer entlang, die etwa drei Meter hoch sein musste. Ich untersuchte jeden Meter ganz genau auf Ritzen, Löcher, Vorsprünge überhä ngende Äste, die ich benutzen könnte, um auf die andere Seite zu gelangen. Nach einer Stunde ungefähr war ich einmal herum und mehr als bedrückt, weil es absolut nichts gab, das mir zur Flucht verhelfen konnte. Der einzige Weg hinaus, war der durch das große schmiedeeiserne Tor, das von zwei Wachen rund um die Uhr bewacht wurde. Sollte ich also nicht irgendwo eine Leiter oder ein Seil auftun können, um mich über die Mauer zu schwingen, würde es für mich keinen Weg hier raus geben.
Ich dachte über Fluchtwege in Film und Fernseh nach und kam zu dem Schluss, dass der auf dem Dach eines Lasters wohl der beste war. Nur hatte ich hier drin noch nicht ein Auto gesehen. Es gab hier ja nicht einmal Wege, die breit genug für ein Auto waren. Wie also wurde das Internat mit Waren beliefert? Vielleicht mithilfe von Karren? Oder es gab ein Tunnelsystem? So etwas hatte ich mal in einer Dokumentation gesehen über ein riesiges Hotel. Damit die Gäste sich nicht belästigt fühlten, wurde ein Großteil des Betriebes unterirdisch erledigt. Aber bestimmt, wenn es denn solche Tunnel gab, wären die gut besucht. Es würden ständig Angestellte dort unten herumlaufen. Vielleicht wären die Türen mit Schlüsselkarten oder Ähnlichem verschlossen?
Ich schob die aufkeimende Idee gleich wieder von mir. Sie wäre wohl nur als letzte Möglichkeit gut. Vielleicht sollte ich meine Getränke verweigern, bis das Medikament aus meinem Körper verschwunden ist, mich dann in den Wolf verwandeln und versuchen, so über die Mauer zu kommen. Oder ich könnte hoffen, dass wir irgendwann mal einen Ausflug machen würden. So in zehn Jahren?
28. Kapitel
Frustriert betrat ich die Etage der kürzlich Gewandelten und beschloss, dass das Absetzen des Medikamentes vielleicht erstmal die beste Idee wäre. Vielleicht nicht die Beste, aber wenigstens ein Anfang. Ich musste nur herausfinden, wie ich das Glas Wasser zu jeder Mahlzeit unbemerkt entsorgen konnte. Mein Vorteil war vielleicht, dass die Aufseher davon ausgingen, dass jeder nur zu gerne die Tropfen nahm, um den Wolf zu unterdrücken.
Als ich an dem kleinen Aufenthaltsbereich der Etage vorbeikam winkte mich Kirsty zu sich. Sie saß auf dem kleinen Sofa, im Fernseher liefen Nachrichten, auf dem Tisch stand eine Tasse mit duftendem Kräutertee. Tee konnte man sich jederzeit in der winzigen Küche machen, nur Essen war im gesamten Gebäude verboten.
»Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr«, frotzelte sie im selben Tonfall, wie ich sie auch aus Silence kannte.
»Du hast auf mich gewartet?«
Ihre blonden, schulterlangen Haare wirkten gepflegter als in Silence. Vielleicht gab es da auch eine Regel, Jedenfalls waren sie glatt und glänzend und nicht mehr so stumpf und strähnig. Sie wirkte eigentlich überhaupt frischer und gesünder. War das die Wandlung? Sie rollte genervt mit den Augen. Und ja, auch diesen Gesichtsausdruck von ihr kannte ich.
»Du hast deine Gefühle noch nicht ausgeschaltet?«
»Nee, keine Lust. Ich will keiner dieser Zombies sein. Aber solange alle glauben, ich hätte es getan, ist alles super«, sagte sie. Sie stand auf, spülte ihre Tasse in der Spüle und stellte sie zum Trocknen auf die Arbeitsplatte.
»Dan n bist du wohl die einzige Normale hier, abgesehen der Neulinge«, stellte ich mit ein wenig Erleichterung fest.
Sie zog die Stirn kraus und zog ein gefaltetes Blatt Papier aus der Potasche ihrer Jeans.
»Du trägst Jeans?«
»Nur außerhalb des Unterrichts.« Sie reichte mir das Blatt und machte sich ohne eine weitere Erklärung davon. Verwirrt sah ich ihr nach, bis sie in ihrem Zimmer verschwunden war.
Für Sekunden stand ich unschlüssig da, das Papier in der Hand. Warum hatte ausgerechnet Kirsty sich nicht verändert? Sie war noch immer so in sich geschlossen, abweisend anderen gegenüber, wie früher. Und doch schien ich sie all die Jahre unterschätzt zu haben, denn sie war mutig genug, sich den Zwängen im Prinz Wilhelm zu Hohenschwangau entgegenzustellen. Konnte ich ihr genug vertrauen, um sie in meine Pläne einzuweihen?
Konnte
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