Silence
rückte mit meinem Stuhl, soweit es ging, an den Mittelgang heran, womit ich ein leises Seufzen von Ermano erntete.
Der Film begann mit einem Standbild von einem nackten Mann und einer nackten Frau. Die rollenden Augen konnte ich wegen der Dunkelheit im Raum nicht sehen, aber das Gekicher aus dem anderen Lager war deutlich vernehmbar. Ich ergriff schwesterlich Partei und rollte die Augen.
Ein männlicher Sprecher setzte uns über die kleinen Unterschiede zwischen Mann und Frau in Kenntnis. Da ich keine Fünf mehr war, hing ich meinen eigenen Tagträumen nach und übte mich wieder einmal in meiner Gabe. Dank Ermano neben mir herrschte in meinem Kopf entspannende Stille, was mir die Chance gab, mich auf das Ein- und Ausschalten meiner Kräfte zu konzentrieren.
Meine Bemühungen wurden jäh unterbrochen, als ich ein Gibst du mir die Schuld? in meinem Kopf hörte.
Ich fuhr erschrocken zusammen und ließ den Bleistift, auf dem ich gerade kaute, geräuschvoll auf den Tisch fallen. Mr. Carter bedankte sich bei mir mit einem ermahnenden Blick.
Ich hatte dich gewarnt , drang Ermanos angenehme Stimme weiter in meinen Kopf.
Ich drehte mich zu ihm und schaute Ermano böse an, indem ich die Augen zusammenkniff und die Brauen über der Nase zusammenzog.
Ermano lachte in meinen Kopf hinein.
Lass das , zischte ich in Gedanken zurück.
Was? Das? Ermano sandte mir eine Textstelle aus unserer Szene aus Romeo und Julia. Doch wären ihre Augen dort, die Sterne in ihrem Antlitz? Würde nicht der Glanz von ihren Wangen jene so beschämen wie Sonnenlicht die Lampe?
Ermano sprach diese Stelle so sanft und mit solcher Inbrunst, dass mir Gänsehaut auf die Arme trat. Dann hatte ich das gleiche Gefühl wie heute Morgen bei Giovanni, etwas strich mir sanft über die Wange. Verwirrt legte ich meine Hand auf die Stelle und Ermano grinste. Wie konnte das sein? War ich wirklich nicht die Einzige mit dieser Fähigkeit? War es also kein Zufall, dass ich in der Nähe der Brüder weitestgehend vor fremden Gedanken geschützt war? Vielleicht war meine angebliche Gabe gar nicht so selten? Warum hatte ich – und jeder andere Mensch, den ich kannte – dann bisher noch nie etwas d avon gehört, dass es Menschen mit dieser Fähigkeit gab?
Lass das , zischte ich wieder. Ich war verwirrt und verängstigt zugleich. Wenn Ermano jetzt auf diese Weise mit mir Kontakt aufnahm, wie lange wussten sie dann schon von meiner Fähigkeit, die Gedanken anderer zu lesen?
»Wenn du nicht mit mir sprichst, wie sollen wir uns dann noch einmal zum Üben treffen?«, flüsterte Ermano, dieses Mal mit seinem Mund. Wir sollten heute noch einmal den Text durchgehen. Morgen ist es schon so weit , hallte es jetzt wieder durch meinen Kopf.
Langsam wurde mir schwindelig von dem Hin und Her und ich schüttelte den Kopf.
Du magst nicht üben?
Das ist es nicht , sandte ich Ermano in seine Gedanken.
Was dann? Ermano rückte näher an mich heran. Sein würziges Deo stieg mir in die Nase. Mein Puls beschleunigte sich, und als sein warmer Atem über meine Wange strich, sprang mein Herz fast aus der Brust.
»Was dann? «, flüsterte er mir ins Ohr.
Ich spürte meine Wangen brennen und senkte den Blick auf die Tischplatte.
»Du machst mich nervös«, flüsterte ich kaum hörbar. »Und du machst mir Angst.«
Ermano grinste.
Unter diesen Umständen wäre es wohl gut, mich mit Ermano zu treffen. So könnte ich vielleicht mehr über diese Gedankenleserei erfahren. Denn, dass die Zwillinge besser waren als ich, war nicht von der Hand zu we isen, überlegte ich.
Dann müssen wir uns bei dir treffen. Meine Mutter mag dich nicht besonders , dachte ich, weil ich es nicht wagte, die Lippen zu bewegen, da Mr. Carter uns beobachtete.
»Das glaub ich gern«, flüsterte Ermano, den Mr. Carters vorwurfsvoller Blick nicht zu stören schien.
Warum funktioniert das hier? Bei dir? Bei mir? Ich versteh das nicht. Ich warf Ermano einen fragenden Blick zu.
Du weißt es immer noch nicht?
Ich schüttelte den Kopf.
»Weil du und ich und noch ein paar hier in Silence anders sind.« Ermano kniff die Lippen zusammen.
»Anders?«, fragte ich erstaunt und vergaß dabei ganz Mr. Carter, der sich hörbar räusperte.
»Ich könnte es dir sagen, aber ich weiß nicht wie und wie du das dann auffassen wirst. Aber vor allem weiß ich nicht, ob du dann noch mit mir reden wirst.« Ermano drehte sein Gesicht weg von mir und starrte an die dicken Vorhänge.
»Wieso sollte ich dann nicht mehr mit dir
Weitere Kostenlose Bücher