Silenus: Thriller (German Edition)
sie an, als hätte er sie bisher noch nicht gesehen.
Silenus baute sich neben ihr auf. »Ja, bitte, nicht so laut«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Wir versuchen hier drüben zu speisen.«
»Was … was haben Sie hier drin zu suchen?«, fragte der Geschäftsführer und starrte Colette an. »Wieso hat man Sie reingelassen?«
»Siehst du?«, schimpfte der alte Mann. »Siehst du das? Sie lassen sie hier sogar essen! Ich kann es einfach nicht fassen!« Seine Frau sah aus, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen.
Colette antwortete nicht. Sie starrte zu Boden. George sah, dass ihre Hände zitterten.
»Sie irren sich, Sir«, sagte Silenus und legte Colette eine Hand auf die Schulter. »Meine reizende Kollegin ist keine Negerin. Sie ist Perserin und von königlichem Geblüt dazu – dies ist Colette de Verdicere aus der Dynastie derer zu Zahand, Prinzessin der Kushsteppen.«
»Tatsächlich?«, fragte der Manager.
Colette antwortete immer noch nicht. Ihre Brust hob und senkte sich unter schweren Atemzügen, und ihre Lider flatterten. George fürchtete, sie könnte in Tränen ausbrechen.
»Na los«, sagte Silenus. »Sag es ihnen.«
Aber Colette sagte es ihnen nicht. Sie schüttelte Silenus’ Hand ab, machte kehrt und ging wortlos hinaus.
Der Rest des Mahls war nach dem, was geschehen war, verdorben, und Silenus überzog den Geschäftsführer mit einer Tirade, um einen Rabatt herauszuschlagen. Als das erledigt war, entließ er sie. Franny und Stanley schickte er in zwei verschiedene Hotels auf der anderen Seite der Stadt, um sie vor neugierigen Blicken zu schützen, und George schickte er zurück in seine geheime Kammer im Theater. Wo er selbst absteigen wollte, verriet Silenus nicht. Vermutlich konnte er mit seiner Tür überall einkehren.
Als George zum Theater zurückkehrte, wurden gerade die Pforten geschlossen. Er schlüpfte hinein und huschte ungesehen hinter die Bühne. Als er beinahe an der Tür zu seiner Kammer war, blieb er abrupt stehen. Da lag ein Geruch in der Luft, etwas wie eine Mischung aus Geißblatt und Lavendel, und er erkannte darin das Parfüm, das Colette regelmäßig benutzte.
Georges Geruchssinn war ebenso gut wie sein Gehör, und er folgte dem Duft über die unzähligen Hintertreppen, bis er schließlich vor der Tür zum Dach stand. Er ging hinaus und stellte fest, dass das Wetter deutlich besser war als bei seinem letzten Besuch auf dem Dach eines Theaters außerhalb von Chicago. Dieses Dach jedoch war ein baufälliges, heruntergekommenes Chaos mit wild durcheinander verlaufenden Rohrleitungen und verdrehten Schornsteinen, die wie Sprösslinge aus dem Dach hervorschossen, jedoch zu einem großen Teil außer Funktion zu sein schienen. Das Theater musste immer wieder umgebaut worden sein, ohne dass irgendjemand nach Abschluss der jeweils vorangegangenen Arbeiten aufgeräumt hätte.
Auf einem der älteren Schornsteine am Rand des Daches sah er eine Gestalt mit gespreizten Beinen über der Öffnung stehen. Sie war gerade dabei, ein beängstigendes akrobatisches Kunstwerk vorzuführen: Sie zog ein Bein an und drehte, während sie auf dem anderen balancierte, eine vollständige Pirouette am Rand des Schornsteins, wirbelte dann geschmeidig herum, stellte ihren Fuß wieder ab und kehrte in ihre ursprüngliche Position zurück.
»Hau ab, George«, sagte die Gestalt.
George trat näher und umging die gefährlicheren Bereiche des Dachs. »Warum?«
»Weil du meine Konzentration störst.«
George sagte nichts. Colette war mit der Asche aus dem Schornstein beschmutzt und atmete schwer vor Anstrengung. Einmal war sie offenkundig schon gestürzt, nach den kleinen Kratzern an ihren Händen und den schimmernden Blutrinnsalen, die langsam aus ihnen hervorquollen, zu urteilen. Er sah zu, wie sie eine weitere Drehung vollführte und dann noch eine.
»Danach sieht es gar nicht aus«, meinte George. »Aber bitte, komm da runter. Das ist gefährlich.«
»Ich weiß, dass es gefährlich ist«, knurrte Colette ihn an. »Darum mache ich es ja.«
George verzog das Gesicht, als sie die Drehung ein weiteres Mal durchführte. Der Kamin sah sehr wackelig aus.
»Ich hasse die verdammte Provinz«, schimpfte sie. »Ich hasse diese verdammten kleinen Leute und diese verdammten kleinen Städte und diese verdammten kleinen Theater.« Noch eine Drehung. »Aber weißt du, was ich am meisten hasse?«
»Nein.«
»Ich hasse es zu wissen, dass es in den großen Häusern wahrscheinlich auch nicht anders sein
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