Silicon Jungle
Rachegefühle zu hegen und gegen einen Bewerber zu stimmen, nur weil der sich nicht hatte zur Schnecke machen lassen. Im Gegenteil, die Interviewer setzten sich meist leidenschaftlich dafür ein, dass gerade ein solcher Kandidat ein Jobangebot erhielt. Trotz angeschlagenen Egos wollte niemand so jemanden an die Konkurrenz verlieren.
So oder so war in der Regel nach dreißig bis vierzig Minuten klar, zu welcher der zwei Kategorien der Kandidat gehörte, und man wandte sich unweigerlich dem Thema Essen zu. Das kostenlose Essen bei Ubatoo bot allen Besuchern immer wieder Anlass zu staunen und erfüllte alle Mitarbeiter mit echtem Stolz und einer kolossalen Menge an Kalorien. Da die Praktikanten beim Lunch mit einem Bewerber meist nicht viel zum Gespräch beisteuern konnten, unterhielten sie sich anderweitig. Zum Beispiel entstand allein auf Grundlage der Bemerkungen zum Essen folgendes Klassifizierungssystem für verschiedene Bewerbertypen.
Ein Personalmanager würde beispielsweise sagen: »Ich finde die Idee absolut genial, Essen von dieser Qualität anzubieten. Die Mitarbeiter bleiben auf dem Firmengelände und arbeiten und denken auch noch beim Lunch an Ubatoo. Sie vergeuden keine Zeit damit, woanders hinzugehen. Sehr gut.«
Ein Verkäufer würde sagen: »Das hier ist alles umsonst? Jeden Tag? Wahnsinn. Ich kann es kaum erwarten, alle Cafeterien hier auszuprobieren. Und wenn ich erst meinen Kollegen davon erzähle – die werden grün vor Neid.«
Ein Marketingexperte würde sagen: »Wenn ich das hier jeden Tag essen würde, würde ich im Handumdrehen zehn Pfund zulegen. Ihr solltet mehr Salat und Gemüse anbieten.«
Ein junger Techniker/Informatiker würde sagen: »Das Essen hier ist um Klassen besser als in den anderen Firmen, wo ich ein Vorstellungsgespräch hatte. Wie lange sind die Cafeterien geöffnet? Gibt’s das ganze Essen auch nachts?«
Ein erfahrener Techniker/Informatiker würde sagen: »Das Essen hier ist wirklich so gut wie alle meine Freunde, die schon mal hier waren, behauptet haben. Ihr solltet euch überlegen, ob ihr das nicht direkt an die Arbeitsplätze liefern lasst, besonders an Tagen, wenn richtig viel zu tun ist. Ich wette, wenn wir in meiner jetzigen Firma so ein Angebot hätten, hätte es keiner so eilig, sich hier zu bewerben.«
Auf jeden Fall klang die Mittagspause mit den Gesprächen über das gute Essen stets optimistisch aus – ob der Bewerber nun ein Angebot erhalten oder – was wahrscheinlicher war – nicht erhalten würde.
Während so eines Kandidaten-Mittagessens erhielt Stephen einen Anruf, der von seinem Büroapparat auf sein Handy weitergeleitet worden war. Eine Stimme, die er nicht genau zuordnen konnte.
»Stephen, ich hoffe, Sie erinnern sich an mich. Wir haben uns vor einer Weile auf einer Ubatoo-Party kennengelernt. Mein Name ist Sebastin Munthe. Atiq hat uns miteinander bekannt gemacht. Ich hoffe, Sie haben einen Moment Zeit.«
Hatte er eigentlich nicht, doch die Nennung von Atiqs Namen reichte Stephen als Motivation, um sich bei den anderen am Tisch zu entschuldigen, die angeregt über eine Gleichung debattierten, die auf Folie drei der siebenundsechzig Folien umfassenden Präsentation des Bewerbers aufgetaucht war.
Er wieselte am Oberkellner der Cafeteria vorbei und suchte eilig nach einem leeren Konferenzraum, wo er ungestört telefonieren konnte. Pinocchio war leer, und er huschte hinein.
»Hi, Sebastin. Freut mich, von Ihnen zu hören. Es ist wirklich schon eine Weile her.« Stephen hatte noch immer nicht den leisesten Schimmer, wer Sebastin war.
»Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen, Stephen«, fuhr Sebastin fort. »Normalerweise würde ich mich persönlich mit Ihnen treffen und die Beweggründe und Ziele meiner Gruppe erläutern, um sicherzugehen, dass Ihnen auch wirklich wohl dabei ist, wenn Sie uns helfen sollten. Aber da die Zeit drängt, hat Atiq mir geraten, Sie direkt anzurufen und, na ja, Sie um Hilfe zu bitten. Er meinte, Sie wären für die Analysen, die ich schnellstens brauche, genau der Richtige.«
»Natürlich helfe ich Ihnen gern. Ich fühle mich geschmeichelt, dass Atiq mich erwähnt hat.« Stephen war überrascht, dass Atiq sich noch an seinen Namen erinnern konnte. »Geht es um eine Werbekampagne oder benötigen Sie eine demografische Analyse? Sobald ich wieder an meinem Schreibtisch bin, können wir loslegen.«
»Nein, nein. Nichts dergleichen, Stephen.« Er machte eine längere Pause. »Ich
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