Silicon Jungle
Diskussionsforen«, »muslimische Nachrichten« und arbeitete sich durch Aberhunderte von Links. Sie hatte ursprünglich nur ein paar Stunden für die Suche vorgesehen, doch schon bald war sie derart versunken in der Welt, die sie da entdeckt hatte, dass sie ihren Zeitplan über den Haufen warf. Sie überflog in Dutzenden Online-Diskussionsforen die Posts von Monaten, und obwohl sie zunächst fleißig Notizen gemacht hatte, hörte sie bald damit auf, um ihre unersättliche Neugier schneller zu befriedigen.
»Kommst du ins Bett?«, fragte Stephen erneut vom Sofa aus. Es war 3.15 Uhr. Stephen war früher als sonst nach Hause gekommen, um noch ein wenig Zeit mit Molly zu verbringen, und hatte nun gut zwei Stunden schweigend dagesessen, während Molly ihr Bestes tat, um den Absprung zu finden.
»Nur noch ein paar Minuten«, bat sie.
»Du arbeitest seit Stunden, ohne dich von der Stelle zu rühren. Du verausgabst dich noch völlig, wenn du in dem Stil weitermachst.«
Er ging zu ihr und fuhr leicht mit der Hand durch ihr langes braunes Haar. Sie reagierte nicht.
»Hat das denn nicht Zeit bis morgen? Ich hab mich den ganzen Abend auf dich gefreut.«
Ihr Blick haftete weiter am Bildschirm.
Er nahm eine ihrer Hände und zog behutsam. »Na komm schon.« Er zog ein bisschen fester und seufzte, als sie seinem Drängen nicht nachgab.
»Lass das.« Sie riss die Hand zurück. »Ich hab doch gesagt, ich muss das hier noch fertig machen. Ich meckere ja auch nicht, wenn du arbeiten musst.«
»Wieso komm ich überhaupt noch nach Hause?«
»Keine Ahnung. Wieso denn?«
»Dann kann ich ja gehen.«
»Ja. Gute Idee. Geh wieder in dein Büro und lass mich in Ruhe.«
Das hätte nicht sein müssen. Aber heute war einfach kein guter Tag gewesen. Was sie bei ihrer Suche gefunden hatte, entsprach nicht ihren Erwartungen, und darüber war sie enttäuscht. Noch mehr aber war sie enttäuscht über ihre Reaktion darauf. Denn das, was sie in den Foren fand, überraschte sie – ein überdeutlicher Beweis dafür, wie weltfremd sie als Anthropologin mit jahrelanger Studienerfahrung letztlich war.
Sie hatte gedacht, auf Extremisten zu stoßen, auf Dissidenten, Terroristen, Waffen- und Vereinigungsaufrufe. Stattdessen entpuppten sich die Foren als Plattform, wo junge Muslime Probleme erörterten, mit denen sie sich tagtäglich konfrontiert sahen. In Hunderten von Posts ging es darum, wie man mit Anfeindungen und Bigotterie fertigwurde. Wie schwierig es war, in der Öffentlichkeit eine Burka oder auch nur einen Hijab zu tragen. In vielen Posts ging es um die Frage, ob man eine Beziehung führen dürfe, ohne es den Eltern zu sagen. Wo stieß man an die Grenzen des eigenen Glaubens? Viele Beiträge unterstützten andere Forumsmitglieder, deren Freunde ihr Wissen über den Islam ausschließlich aus den Sondermeldungen im Fernsehen schöpften. Sie las unzählige Beiträge über junge Männer und Frauen, die sich jedes Mal bedroht fühlten, wenn in den Nachrichten über Terroranschläge in Europa oder auf den Philippinen berichtet wurde, die mit ihrem Leben ebenso wenig zu tun hatten wie eine Reise zum Mars? Es waren viel zu viele, um sie alle in Erinnerung zu behalten.
Molly verfolgte das, was die Betreffenden im Laufe von Monaten an Nachrichten und Diskussionsbeiträgen ins Netz gestellt hatten, wie Seifenopern im Schnellvorlauf. Wie sollte jemand so viele persönliche Geschichten lesen, ohne davon berührt zu werden? Immer wieder musste sie an Kamerun denken, an Sandrine und Francis. Genau diese Art von Unterstützung hätte Sandrine gebraucht. Muslime, Christen, Hindus, Juden, was auch immer. Diese Gruppen boten Unterstützung, verhalfen hilfesuchenden Menschen zu einem Gegenüber, mit dem sie reden konnten. Genauso eine Hilfe hätte Molly auch Sandrine gewünscht.
Die Menschen, auf die Molly bei ihrer Recherche stieß, hatten nichts mit den imaginären Existenzen, auf denen sie ihre Dissertationspläne aufgebaut hatte, gemein. Wenn die Menschen, die in den Foren miteinander kommunizierten, kein wütender Mob waren, wie sie ihn sich ausgemalt hatte, dann war ihre Dissertation eigentlich überflüssig. Jungen, die überlegten, ob sie mit einem amerikanischen Mädchen befreundet sein konnten, oder junge Frauen, die sich Gedanken über die angemessene Kleidung machten – so wichtig das eine wie das andere auch sein mochte, ihren Promotionsausschuss würde sie damit wahrscheinlich nicht besonders beeindrucken
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