Silicon Jungle
können.
Es war 3.55 Uhr, als Stephen wieder auf dem Ubatoo-Gelände ankam. Es waren nur noch wenige Lampen an, dafür aber mehr Sicherheitsleute als Mitarbeiter da. Er hatte den ganzen Tag bei Ubatoo härter gearbeitet als sonst, damit er früher nach Hause konnte, und wäre lieber nicht wieder hergekommen. Aber wo hätte er sonst hingekonnt?
Entschlossen, sich nicht gleich wieder an den Schreibtisch zu setzen, mied er das Gebäude 11. Stattdessen folgte er dem Backsteinweg, der vorbei an den üblichen Betongebäuden zu den gurgelnden Springbrunnen und manikürten Rasenflächen führte. Alle Wege schienen irgendwann an Xiaos Ballsaal zu enden. Drinnen brannte Licht. Er ging hinein, hoffte, es würde jemand PlayStation spielen, wie sie es nach dem Praktikumswettbewerb getan hatten, oder er würde irgendwie anders ein paar Minuten Ablenkung finden.
An einem der vielen, kunstvoll geschmückten Tische, die für eine Presseveranstaltung am nächsten Tag hergerichtet worden waren, saß Aarti. Sie hatte einen Stapel Papiere neben sich aufgetürmt und war völlig vertieft in ihre Lektüre. Sie hatte ihn nicht gehört, und er hatte nicht vor, sie zu stören. Aber dann sah sie auf und winkte.
Sie lächelte. »Kommst du oft her, Fremder?«
»Ich mach bloß einen kleinen Spaziergang. Konnte nicht schlafen. Was ist mit dir? Du bist noch spät auf.«
»Ich komm manchmal zum Lesen her – um aus dem Büro rauszukommen und aus meiner Wohnung.« Sie sah ein wenig müde aus, doch noch genauso umwerfend wie damals auf der Party. Sie trug Jeans und eine weiße Bluse.
»Was liest du?«
Sie wurde rot und schaute weg. Ihr Haar, das sie normalerweise im Nacken zusammengesteckt trug, war offen, und eine Strähne fiel ihr übers Auge, als sie sich bewegte.
»Siehst du die ganzen Unterlagen da?« Sie deutete auf den Stapel wissenschaftlicher Aufsätze neben sich. »Also, das lese ich nicht.« Sie hob einen Roman vom Schoß und hielt ihn hoch, damit Stephen das Buch sehen konnte. »Wesentlich interessanter, vor allem in einer einsamen Nacht.« Dann erinnerte sie sich aber an das anzügliche Cover und senkte das Buch rasch wieder, in der Hoffnung, dass Stephen es nicht so genau gesehen hatte.
»Liebesromane? Du? Das hätte ich nicht gedacht.«
Sie zuckte ganz leicht mit der Schulter. »Seit ich fünfzehn bin, lese ich etwa einen die Woche.
»Und haben die alle so ein Cover?«
Sie hielt das Buch jetzt so, dass sie beide die Abbildung deutlich sehen konnten: Ein halb nackter, muskulöser Mann riss einer verzweifelten Maid das hauchdünne, notdürftig geschnürte Korsett vom Leib.
»Nicht alle – nur die, die ich lese«, sagte Aarti in einem leicht schläfrigen Flüsterton.
Und sie plauderten weiter – über dies und das. Sie hätten sich vermutlich bis zum Frühstück unterhalten, doch dann piepste Stephens Handy.
Es tut mir leid.
Bin noch auf und warte auf dich.
Komm doch bitte nach Hause.
BERICHTENSWERT
11. Juli 2009.
Warum interessiert sich ein Junge aus London für Amerikaner im Irak? Die meisten Jugendlichen sehen keine Nachrichten, interessieren sich nicht für Politik und wären wahrscheinlich nicht imstande, den Irak auf einer Landkarte zu finden. Aber in einem Diskussionsforum, in dem das Engagement Amerikas im Nahen Osten Thema war, tippte ein fünfzehnjähriger Junge unter dem Pseudonym truthAndDare28 folgende Nachricht in sein Handy:
Posted By: truthAndDare28
Posted: Jun 18 2:23 am
Location: London
sie bewegen sich nicht, weil sie sich den ganzen Tag mit Schweinefett und Hotdogs und Fäkalien vollstopfen sie können nicht kämpfen weil sie ein Haufen Schlappschwänze sind, ich bete dass der Tag kommt. lasst uns alle beten dass er bald kommt. Brüder betet zusammen dass wir diese widerlichen, stinkigen militaristischen Kreuzritter zermalmen gib uns die Kraft zum Sieg. ich tobe, ich weiß, aber ich bin wütend. heute melde ich mich noch mal wenn ich das Foto hab und nicht früher. in zwei Tagen wenn
Molly hatte zwar nicht herausgefunden, wieso der Junge so einen Hass auf Amerika hatte, aber als sie weiterlas, war ihre Neugier bezüglich des Fotos schnell dahin. In Posts zwei Tage später erzählten andere, was aus truthAndDare28 geworden war. Siebenunddreißig Stunden nach seiner Nachricht war er gestorben, an seinem sechzehnten Geburtstag. Es war ein gewaltsamer Tod gewesen. Zumindest soll es schnell gegangen sein.
Es war typisch für Molly, dass sie nach der
Weitere Kostenlose Bücher