Silicon Jungle
bekannt ist. Die Figur Sahim ist bereit, einen Kampf und alle dazu notwendigen Aktionen zu unterstützen, aber erst, wenn er alle Fakten kennt. Da diese Paris-Nachricht gerade erst rausgekommen ist und keiner genau weiß, was passiert ist, passt die perfekt. In ein paar Stunden poste ich dann noch mit meiner anderen Figur, M. Zakim – er ist der typische Aufwiegler, der bei jeder Gelegenheit Schuldzuweisungen von sich gibt und immer das Schlimmste vorhersieht. Diese beiden werden verbal aufeinander losgehen. Vielleicht lass ich noch ein paar andere Figuren los. Entscheidend ist, dass Sahim als Sieger aus der Diskussion hervorgeht. Mal sehen, wie sich das auf andere, reale Teilnehmer auswirkt.«
Sie wartete, bis Stephen das alles verarbeitet hatte.
»Ich werde die Auswirkungen der unterschiedlichen, von mir angewandten Methoden messen, sie quantifizieren und analysieren, wie sie sich effektiv nutzen lassen. Wahrscheinlich kann ich mich dabei auf Sahim beschränken, da er schon aus anderen Foren bekannt ist und einen gewissen Ruf hat, aufgrund seiner allerersten Posts zu Mustafa Kawlia. Erinnerst du dich an die?«
»Ich erinnere mich an Mustafa. Und ich kapiere, was du da machst. Du schreibst ein Handbuch darüber, wie sich die öffentliche Meinung in Foren manipulieren lässt«, sagte Stephen mit einem breiten Grinsen. »Aber eins macht mir Sorgen.«
Er sprach etwas langsamer, wählte seine Worte sorgfältiger als zuvor. Sie wartete nervös, fragte sich, ob er genauso besorgt war wie sie, dass sie mit dieser Studie vielleicht zu weit ging.
»Wie willst du die Studie wissenschaftlich wasserdicht machen? Mir gefällt die Idee sehr, aber dein Promotionsausschuss wird ganz bestimmt wissen wollen, wie du die Ergebnisse gemessen hast, wie repräsentativ sie sind …«
Molly war erleichtert. Diese Bedenken ließen sich leicht zerstreuen.
»Stell dir vor, damit könnte sich tatsächlich der Einfluss irgendeines extremistischen Forumsmitglieds vermindern lassen. Das wäre doch ein promotionswürdiger Leistungsnachweis. Ich kann es spüren. Ich bin eindeutig auf dem richtigen Weg«, sagte sie mit neuer Zuversicht.
»Pass bloß auf, dass du nicht erwischt wirst. Das wäre ziemlich schwierig zu erklären.«
»Erwischt? Von wem?«
»Von den echten Usern. Die werden nicht besonders erfreut sein, wenn sie rausfinden, dass sie …«
»Ach, ich werd schon nicht erwischt«, schnitt Molly ihm das Wort ab. Sie wechselte rasch das Thema. »Hast du Lust, noch über andere Experimente zu reden, die ich durchführen könnte? Ich hab da eine ganze Reihe von Ideen.«
»Du liebe Güte. Klar, es ist ja erst zwei Uhr morgens, noch reichlich Zeit, bis die Sonne aufgeht.«
Molly kippte den Rest von ihrem Rum Cola in sich hinein und sprang wieder rüber zur Couch, wo ihre Notizen lagen. Stephen folgte ihr müde, und kaum hatte er sich neben sie gesetzt, da rasselte sie auch schon eine Idee nach der anderen herunter, wie sich Entscheidungen und Meinungen in Diskussionsforen geschickt manipulieren ließen, so zum Beispiel, indem man manche Posts »versehentlich« verlor, die Rankings mancher Posts künstlich in die Höhe trieb, Dutzende Diskussionsteilnehmer erfand, damit eine Meinung mehr Gewicht bekam, einen Beitrag in mehreren Foren postete, gebildet klang, leidenschaftlich klang, sich als alt ausgab, als jung, männlich, weiblich, die Schriftfarbe und -größe veränderte, und noch viele Taktiken mehr.
Bis kurz vor Sonnenaufgang wägten sie sorgfältig das Für und Wider jeder Variante ab. Als Molly aufstand, um nachzusehen, wie viele neue Posts in der Zwischenzeit eingegangen waren, ließ Stephen seinen schweren Kopf langsam auf die Couch sinken. Seine Lider schlossen sich, schenkten seinen brennenden, völlig blutunterlaufenen Augen Erholung. Das ferne Klappern der Tastatur und das leise Rascheln von Mollys Unterlagen leisteten ihm Gesellschaft in den wenigen Momenten, ehe der Schlaf ihn endgültig einholte.
ZWEI FAKULTÄTEN SIND MANCHMAL EINE ZU VIEL
Februar 2004.
Angesichts der feierlichen Ernsthaftigkeit eines Promotionsverfahrens mag es durchaus verwundern, dass Aufnahmeentscheidungen häufig in kindische Rangeleien ausarten. Jedenfalls im Fall von Molly Byrnes, als sie einen Platz im akademischen Elfenbeinturm anstrebte.
Mollys bewarb sich an der Brown University für einen dualen Doktortitel in Politologie und Anthropologie. Das bedeutete zunächst einmal, dass sie leicht masochistisch veranlagt war, da sie die
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