Sils Maria: Kriminalroman (German Edition)
Qigong-Laut. Holzlaut, Feuerlaut oder dergleichen. Aber denkste. Aus Marlies’ Mund kam gar kein Laut. Zuerst. Dann sagte sie, ganz nüchtern: »Wir müssen die Polizei verständigen«, wie man sagt: »Wir müssen die Flüge buchen. «
Sie klang völlig emotionslos, geradezu routiniert, als sähe sie täglich erfrorene Asiaten, die in Trögen liegen. Plotek nickte. Marlies wählte mit ihrem Mobiltelefon die 117, die Schweizer Notrufnummer.
Nachdem sie den Toten noch eine Weile aufmerksam betrachtet hatte, zog sie eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und steckte sich eine an. Plotek war überrascht. Er sah Marlies an und dachte: Die Augen von Dr. Wehrli sehen alles.
»Scheißegal!« Marlies hielt ihm die Schachtel hin.
Plotek zögerte.
»Na, mach schon!«
In so einer extremen Situation fällt gern auch mal das Sie dem Du zum Opfer. »Na, komm schon!«
Griff Plotek eben zu. Er steckte sich die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Es tat gut.
So muss man sich fühlen, wenn man vor dem Tod die letzte Zigarette raucht, dachte Plotek. Dabei wurde es ihm angenehm schummrig. Sein Blick tanzte. Die Welt um ihn herum schien sich langsam zu drehen. Der Asiate im Trog sah jetzt aus, als lächelte er. Marlies auch. Plotek spürte, wie sich selbst um seinen eigenen Mund ein lächelnder Zug legte. Dann fiel er um. Und landete im Stroh. Marlies legte sich dazu. Sie lagen nebeneinander, sahen durch das kaputte Dach hoch in den blauen Himmel und blickten den Wolken hinterher, die das Loch, als wären sie hintereinander her, durchkreuzten.
Zwanzig Minuten später waren wieder alle um den Toten versammelt. Linard Jäggi, Vera Frischknecht, einige Spurensicherer in weißen Overalls, Plotek, Vinzi und Marlies. Die Hauptkommissarin hatte mit ihrer Truppe offenbar seit dem Vortag Sils Maria noch nicht verlassen. Als ahnte sie, diesem Oberengadiner Dorf so schnell nicht mehr zu entkommen.
»Die Chinesen kommen!«, sagte Jäggi. »Jetzt sogar durch die Luft.«
Er zeigte hoch zum Loch im Dach, zog an seiner Pfeife und qualmte vor sich hin. »Hab ich es nicht gesagt!«
Alle sahen jetzt Frau Frischknecht erwartungsvoll an, als hätte die eine halbwegs einleuchtende Erklärung, wie dieser asiatisch aussehende Mann in den Futtertrog im Schweizer Engadin geraten konnte.
»Ich gebe zu, so was haben wir zwar selten, aber es kommt schon mal vor.«
Die Erwartung schlug um in Verwunderung. Alle schienen sich zu fragen, wie die hübsche Hauptkommissarin das denn meinte.
»Das gibt’s«, legte sie aber lediglich nach.
»Wie die Kältetoten?«, stocherte Vinzi im Vagen.
Marlies verdrehte die Augen, als wäre sie von dieser Diskussion gelangweilt und wollte wieder zurück aufs Stroh.
»Exakt!« Frau Frischknecht reckte dabei den Daumen in die Höhe. »Das ist genau genommen auch ein Kältetod, allerdings kein freiwilliger.«
»Mord?«, fragte Plotek, wie man fragt: »Wer war’s?«
»Na ja, auch nicht«, kam zögerlich von der Hauptkommissarin. »Eher Unfall.«
Wieder die verdrehten Augen von Marlies.
Dann nach weiterer Überlegung: »Oder besser: unglückselige Verkettung noch unglückseligerer Ereignisse.«
»Hä?« Jetzt war der Nebel bei den anderen ganz dicht. Die eigene Hand vor dem Gesicht war kaum mehr zu sehen . Versuchte die Hauptkommissarin eben, ein wenig Licht in das gedankliche Dunkel der Versammelten zu bringen.
»In der Gemeinde Weisslingen in der Nähe von Zürich und im Raum Waldshut in Deutschland tauchten letztes Jahr ebenfalls derartige Leichen auf. Der Mann ist, wie es scheint, ein illegaler Einwanderer. Er ist vermutlich irgendwo in Asien – China, Vietnam, Kambodscha – in den Fahrwerkschacht eines Flugzeugs geklettert, um seinem Land und vor allem seiner dortigen Situation zu entkommen. Um heimlich nach Europa zu gelangen.«
Die um den Trog Herumstehenden hörten aufmerksam zu wie Studenten in einem Proseminar der attraktiven Professorin.
»Im Fahrwerkschacht eines Flugzeugs?«, wiederholte Vinzi.
Jäggi schüttelte, noch immer rauchend, den Kopf.
»Exakt.« Frau Frischknecht ließ keine Zweifel daran und kommentierte wieder mit hochschnellendem Daumen. »In einer Flughöhe von zehntausend Metern herrschen Temperaturen von bis zu minus sechzig Grad. Der Mann ist also womöglich erfroren. Oder aber an Sauerstoffmangel gestorben.«
»Aber wie kommt er dann um Himmels willen hierher?« Für Jäggi schien das alles nach purer Fantasie zu klingen.
»Vermutlich ist er beim Landeanflug auf den
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