Sils Maria: Kriminalroman (German Edition)
sei jetzt völlig übergeschnappt und ein Fall für den Psychiater. Es half nichts. Die Spurensicherer mussten, wenn auch maulend, die Schalungstafeln entfernen und einige der Mauern auseinanderklopfen.
»Es gibt ernstzunehmende Hinweise«, pochte die Hauptkommissarin auf die Vorgehensweise. »Eine seriöse Zeugenaussage!«, schob sie nach, als wäre das schon der Beweis für das Opfer in der Mauer. »Demnach liegt der Tote im Beton!«
Wer der Zeuge war, hielt sie wohlweislich unter Verschluss. Zeugenschutzprogramm quasi. Sonst wären Plotek und Vinzi womöglich von den Bauarbeitern und der Bauleitung, von den Spurensicherern und Jäggi höchstpersönlich gelyncht worden.
In den ersten Mauern war nichts zu finden. Keine Leiche, nicht einmal Spuren von selbiger. Als die Schlagbohrer schon am Verstummen waren, spornte die Hauptkommissarin ihre Kollegen erneut an und drohte, falls sie sich weigern würden, mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde. »Sie wissen, was das bedeutet?!« Das klang nicht gut. Also nahmen die Männer die Bohrer wieder in die Hand und zertrümmerten weitere Mauern unter den Tränen der Bauleitung. Mit Erfolg.
Der abgängige Finne kam tatsächlich zum Vorschein. Tot und einbetoniert. Betongrab quasi. Vera Frischknecht jubelte mit nach oben gereckten Armen, als wäre in der Nachspielzeit bei Unterzahl der Siegtreffer in der letzten Minute gefallen. Ihre Kritiker verstummten. Die Bauarbeiter sahen beschämt zu Boden. Die Bauleitung biss sich in die Hand. Die Spurensicherer wiederum blickten bewundernd zur Hauptkommissarin auf. Jäggi war sprachlos. Vera Frischknecht ließ sich feiern.
»Bei Gelegenheit revanchiere ich mich«, flüsterte sie Plotek und Vinzi im Vorbeigehen zu.
Mit dem eindeutig ermordeten kleinwüchsigen Finnen rückte der tote Elvis im Wald ebenfalls wieder in den Fokus der Ermittlungen. Die Selbstmordthese wurde zuerst brüchig und dann ganz verworfen. Auch bei diesem Opfer ging die Polizei von nun an von Mord aus. Soll heißen: Zweifachmord. Mit Tendenz zu mehr. Da es höchstwahrscheinlich ein und derselbe Täter war. Was für einer, war unklar. Spekuliert wurde viel. Im Ranking ganz weit vorne lagen ein ausgewiesener Elvis-Hasser und ein neidischer Elvis-Konkurrent.
Womöglich bleibt es nicht bei den zweien, dachte Plotek, potenzielle Opfer gab es derzeit in Sils Maria genug. Mehr als genug. Das dachten sich wohl auch einige der Elvis-Imitatoren und reisten kurzerhand ab, noch bevor der Contest überhaupt begonnen hatte.
Der Einzige, der sich über die dramatische Entwicklung zu freuen schien, war Beat Zuberbühler, der Bräutigam von Agatha und gleichzeitig Veranstalter des Elvis-Contests. Vo n einem Desinteresse der Medien an dem Wettbewerb in Sils Maria konnte nicht mehr die Rede sein. Jetzt wurde auf allen Kanälen darüber berichtet. Nicht nur in der Schweiz. Auch das benachbarte Ausland wurde plötzlich auf das kleine Bergdorf in Graubünden aufmerksam. Die Folge war, dass nicht nur Horden von Journalisten ins Ober engadin einfielen, sondern auch eine steigende Anzahl von Touristen. Nachdem die Straße nach Sils endlich von den Lawinen befreit worden war, strömten die Massen ins Tal.
»Alles elendige Katastrophentouristen«, sagte Douglas McCarther.
Plotek konnte dessen miese Stimmung bestens verstehen, wollen doch diese Menschen nichts anderes, als ihr belangloses, ödes Dasein ein bisschen aufzupolieren, indem sie am Unglück anderer teilhaben und am aufregenden Geruch des Verbrechens schnuppern. Beat Zuberbühler hingegen zog aus diesem Hype um Sils Maria größtmöglichen Nutzen für sein Geschäft. Für ihn offenbar die letzte Chance, den Wettbewerb in die richtige Bahn zu lenken. Ein Geschenk des Himmels sozusagen. Die Merchandising-Produkte gingen jetzt weg wie geschnitten Brot. Beat machte einen derart zufriedenen Eindruck, dass manch einer hinter vorgehaltener Hand sogar mutmaßte, der Zuberbühler selbst stünde mit den Morden in Verbindung. Linard Jäggi unterstützte das Gerücht vehement und sagte: »Dem wäre alles zuzutrauen!« Wobei sein Argwohn vielleicht eher an seiner persönlichen Abneigung gegenüber dem gut aussehenden Zuberbühler lag. Oder auch daran, dass Beat offen bar wusste, was Jäggi einmal im Monat in Zürich trieb.
Nach dem Mittagstrunk und der Shiatsu-Einheit, in der Frau Wehrli Plotek wieder einen kleinen Höhenflug mit gleichzeitiger Erektion bescherte, war er mit geschulterter Angel und dem neuen Köder unterwegs zum Silsersee.
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