Sils Maria: Kriminalroman (German Edition)
bezüglich der Kältetoten schon wieder warm redete.
»Alle scheinen der Meinung zu sein, diese Selbstmorde der Jugendlichen seien eine Modeerscheinung, ein Hype. Blickt man aber ein wenig genauer hin, wird einem klar, dass es um viel mehr geht. Der Grund für die Suizide sind die blanke Not und Ausweglosigkeit.«
Plotek war schon immer von Agnes’ Art zu erzählen begeistert. Und von ihrer Stimme. Die schönste Stimme Münchens, hatte er früher immer behauptet.
Und heute ist das nicht anders, dachte er und hörte ihr zu wie einem hochinteressanten Radioprogramm.
»Es geht um Mobbing, um ganz dreistes Mobbing sogar. Es geht um Internetseiten, auf denen jeder Arsch den anderen denunzieren kann, fertigmachen, an den Rand der Verzweiflung treiben und darüber hinaus.«
Selbst wenn Agnes über Mobbing sprach, über Suizide und Tote, über den Abgrund der Menschheit, klang es wie eine Erzählung aus Tausendundeiner Nacht .
»Was zur Folge hat, dass immer mehr Jugendliche keinen anderen Ausweg sehen, als sich umzubringen.« Agnes nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Bierglas. Plotek nippte halbherzig an seinem Wasser.
»Das ist doch Wahnsinn«, sagte Plotek. Nicht unbedingt, weil er davon überzeugt war, sondern weil ihm auffiel, dass er lange schon nichts mehr gesagt hatte. Er befürchtete, dass diese schöne Stimme, wenn ihr nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt würde, plötzlich versiegen könnte.
Sie versiegte nicht. Schon ging es weiter.
»Ja, das ist der moderne Cyber-Mobbing-Horror. Mobbing gab es zwar schon immer, aber noch nie war es so einfach, anonym zu bleiben und aus sicherer Entfernung zu agieren.«
»Und du glaubst, dass es sich bei den Kältetoten ebenfalls um Mobbing-Opfer handelt?«
»Ich glaube es nicht nur, ich bin mir sogar ziemlich sicher.«
»Und was kann man dagegen machen?«
»Hmm, schwierig. Zunächst aufklären, wachrütteln. Da für bin ich hier. Dann die Täter identifizieren und zur Rechenschaft ziehen.«
Frau Pan brachte ein zweites Bier. Dann noch eines. Agnes trank immer mehr, lachte und flirtete auffällig mit Plotek. Und der mit ihr. Wie in alten Tagen. Sie redeten anschließend über seine Kur, über die traditionelle chinesische Medizin, über Shiatsu, über Qigong, und machten sich über den Holzlaut und den Feuerlaut lustig. Vor jedem Schluck ließ Agnes ein lang gezogenes »Uaaaaaaaaaa!« durch das Restaurant hallen, sodass Frau Pan böse guckte.
»Sag mal, gehört die Angel eigentlich auch zu deiner Kur?« Agnes zeigte zur Wand, wo die Angelrute wieder wie ein postmodernes Kunstwerk lehnte.
Plotek nickte. Dann kam Agnes ihm plötzlich ganz nahe. Investigativ sozusagen. Sie steckte ihre Nase ein weiteres Mal in muffelnde Bereiche.
»Sag mal, hast du ein neues Rasierwasser?«, fragte sie, wie man fragt: »Hast du dich heute schon geduscht?«
» Gentleman von Givenchy.«
»Klassiker«, sagte Agnes und: »Sehr schön. Gibt es scho n seit 1974.« Sie nahm eine weitere Nase. »Damit gingen schon viele Berühmtheiten auf die Jagd.«
Welche Berühmtheiten?, wollte Plotek fragen. Und: welche Jagd?
Zählte Agnes schon auf. »Chabrol, Bernhard, Dürrenmatt, Bowie.«
»Die waren alle auch schon hier«, warf Plotek ein.
»Na, da siehste mal.« Als würde das für sie, die Berühmtheiten, sprechen. »Ich glaube, auch Elvis Presley hat zeitweilig den Duft mit sich herumgetragen. Oder verwechsle ich da was?«
Plotek horchte auf. »Elvis Presley?«
»Ja, glaub schon.«
»Das kann nicht sein.« Er meinte es weniger als Widerspruch denn als Ausdruck der Verwunderung.
»Na ja, dann halt nicht.« Agnes hörte eher den Widerspruch heraus.
»Nein, nein, das mein ich nicht so.«
»Was dann?«
»Deswegen hat der Finne vielleicht auch das Eau de Toilette benutzt«, sagte Plotek, in Gedanken ganz beim einbetonierten Kleinwüchsigen.
»Welcher Finne?«
»Und der tote Elvis im Wald.«
»Welcher tote Elvis?«
»Der Elvis-Imitator aus Finnland, der zwischen den Schalungstafeln gefunden wurde, und der andere, der nac kt im Wald lag.«
»Und du meinst, deswegen sind die umgebracht worden?«
»Was? Nee, das mein ich nicht.«
»Könnte aber doch sein, oder?«
»Was?«
»War ein Scherz.« Das konnte man bei Agnes nie genau wissen. Auf jeden Fall lachte sie, als wäre ihr dieser besonders gut gelungen. Herzhaft, erfrischend und schön. Plotek lachte auch.
»Na, hier geht es ja heiter zu.« Das Lachen der beiden wurde unterbrochen.
Vinzi und Klemens kamen ins Wang
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