Sils Maria: Kriminalroman (German Edition)
kam von der Kirche. Die zeigte mit kräftigen Glockenschlägen an, dass es mitten in der Nacht war. Plotek fühlte sich erschöpft, aber gut. Sehr gut sogar. Die kalte Luft war erholsam. Der frisch gefallene Schnee hatte etwas Sanftes, nahezu Gepolstertes. Die Dunkelheit etwas Zärtliches. Fast alle Lichter waren aus. Kaum ein Fenster, das noch beleuchtet war. Nur vereinzelte Straßenlaternen brannten noch. Sils Maria schlief. Tief und fest.
»Gute Nacht!«, murmelte Plotek vor sich hin, als er Richtung Privatklinik abzweigte. Auf dem Parkplatz des kleinen Supermarktes sah er, von Schneehaufen weitgehend verdeckt und deshalb nur schwer zu erkennen, ein Auto. Einen Jeep. Nichts Ungewöhnliches, hätte man denken können. Aber falsch gedacht. Doch ungewöhnlich. Da der Wagen in völliger Dunkelheit leise vor sich hin lief. Soll heißen: Der Motor war an, das Licht aus. Ploteks Neugierde hielt sich normalerweise in Grenzen. Was interessierte ihn schon ein vor sich hin tuckernder Wagen mitten in der Nacht am Arsch der Welt? Nicht die Bohne, eigentlich. Hätte er nicht das Gefühl gehabt, dass der Wagen ihm bekannt vorkam.
Ist das nicht der Jeep von Beat?, dachte er und fing nun doch an, sich dafür zu interessieren. Nicht nur für das Auto, sondern dafür, was Beat mitten in der Nacht in dem laufenden Wagen zu schaffen hatte.
Plotek schlich an das Auto heran. Durch die Heckscheibe hindurch konnte er schemenhaft erkennen, dass dort jemand saß. Als er dann einen Blick durch das hintere Seitenfenster hinein wagte, sah er auch, wer es war. Natürlich Beat Zuberbühler. Er saß auf dem Beifahrersitz. Nicht auf dem Fahrersitz. Auf dem Fahrersitz saß niemand. Dennoch war Beat nicht alleine im Auto. Da saß noch jemand. Auch auf dem Beifahrersitz. Auf Beat Zuberbühler drauf! Das war aber nicht Agatha. Auch nicht Selina Wehrli. Das war …
Verdammt, dachte Plotek, ist das nicht die Frischknecht?
Es war tatsächlich die Hauptkommissarin Vera Frischknecht, die auf Beat halbnackt herumturnte.
So sieht also Dolce Vita aus, dachte Plotek. Die Münder fest aufeinandergepresst, die Arme umschlungen, die Hände in des anderen Haare geparkt. Oberkörper frei, aber noch mit Hose. Beide waren in Regionen unterwegs, in denen Plotek derzeit die Luft zu dünn war. Hier wurde niemand ohnmächtig. Eher das Gegenteil. Hier lief unk onventionelle Ermittlungsarbeit auf höchstem Niveau und mit ganzem Körpereinsatz ab. Vielleicht Beweise sichern, dachte Plotek und grinste in sich hinein. Bedeutet: auch ohne Gentest auf der Spur des Kondominhalts aus der Futterhütte.
Nach ein paar Minuten ließ er die beiden ungestört weitervögeln und machte sich auf den Weg zurück zur Straße, als Schüsse aus dem Wald zu hören waren. Jäggi jagte. Plotek wunderte sich. Nicht über die Schüsse, sondern den Zeitpunkt. Warum jagt er in der Nacht? Schlafen da nicht auch die Tiere? Die Rehe? Apropos. Plotek sah zu Boden auf der Suche nach Spuren. Aber nichts. Keine Rehspuren. Nirgends.
Auch als Plotek wenig später die Klinik von Dr. Wehrli betrat, war er, um halb drei, nicht allein. Britta, die Qigong-Expertin, konnte er im nur spärlich beleuchteten Klinikbau sehen. Nicht in weißer Dienstkleidung, sondern zivil, also mit Jeans und Pullover. Er hatte den Eindruck, dass sie weder ihm noch sonst jemandem begegnen wollte.
Ist doch mehr los im nächtlichen Sils als angenommen, dachte Plotek. Da glaubt man, die Welt schläft, stattdessen macht sie Petting, strolcht herum und jagt. Er gähnte. An keiner der drei Disziplinen war er momentan interessiert. Er schlurfte, nun wirklich müde, den Flur entlang.
Er öffnete seine Zimmertür, zog sich, ohne Licht anzumachen, aus und legte sich schnell ins Bett. Aber denkste. Kaum lag er, stand er schon wieder. Der Grund: Sein Bett war besetzt. Jetzt machte er doch das Licht an und sah …
»Marlies!«
Noch eine Überraschung! Womöglich war das sogar die, die der Glückskeks großspurig prophezeit hatte. Was das aber mit Glück zu tun haben sollte, leuchtete Plotek nicht ganz ein.
Marlies trug ein fast durchsichtiges Nachthemd. Oder besser: fast nichts. Er konnte das, was sich darunter verbarg, gut erkennen. Sehr gut sogar. Und das sah gar nicht schlecht aus. Eher das Gegenteil. Logisch: Wenn man fast Durchsichtiges trägt, macht man das natürlich, damit das, was sich drunter verbirgt, auch gesehen wird. Daran kann man wiederum nur ein Interesse haben, wenn das Gezeigte auch ansehnlich ist. Sollte man meinen.
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