Silver Moon
Ihn hatte ich gar nicht bemerkt. Er saß, mit einer Peitsche in der einen und einem Knüppel in der anderen Hand, breitbeinig auf einem alten Sessel in einer düsteren Ecke des Raumes. Weinend stand ich auf.
»Vater, bitte … Ich bitte dich: Binde die beiden los, nimm ihnen die Ketten ab, lass sie gehen – bitte!«, flehte ich und faltete dabei die Hände. Vater stand nicht auf, er blieb ungerührt in dem braunen Sessel sitzen und ließ die Peitsche einmal durch die Luft tanzen.
Das pfeifende Geräusch, das dabei entstand, ließ mich zusammenzucken. Ich blickte zu meinen Brüdern: Ihre Arme und ihre blanken Oberkörper hatten unzählige Spuren dieser Peitsche vorzuweisen. Das Leder hatte teilweise tief in ihre Haut geschnitten.
»Vater, löse doch die Ketten, lass sie frei, bitte!« Ich sah mich suchend im Raum um. Wie konnte ich ihnen nur helfen?
»Ihr Schicksal liegt ganz bei dir, Kira!«, sagte Vater plötzlich.
»Bei mir? Was kann ich tun?«
»Das weißt du genau!«, war seine Antwort und ich wusste, worauf er anspielte. Magnus! Wieder sah ich beide an: Nino war noch immer bewusstlos, so arg war er geschlagen worden. Sein dunkelblondes Haar war stellenweise rot gefärbt von seinem eigenen Blut.
Ich sah zu Kai, der mir mit aller Kraft etwas zu sagen versuchte, doch die Worte wollten nicht aus seinem Mund kommen. Stattdessen bemerkte ich, wie er ganz leicht seinen Kopf hin und her bewegte. »Nein, Kira … Tu’s nicht! Geh nicht … zu diesem Schwein von Brock, … tu’s … nicht!«, quälte sich Kai heraus.
Dann geschah alles wie in Zeitlupe. Vater stand auf. Ehe ich mich versah, hatte er mit dem Knüppel zum Schlag ausgeholt und traf Kai damit am Kopf. Er sackte in sich zusammen.
»NEIN!« Ich schrie, so laut ich konnte, und eilte zu Kai.
Er stöhnte kurz auf und flüsterte meinen Namen.
Ich bemerkte meine Tränen gar nicht mehr, sie flossen wie ein strömender Bach über meine Wangen, und mir war eines klar – ich hatte keine Wahl mehr!
»Gut, Vater! Ich werde wieder zu Magnus gehen und ich werde ihn zu meinem Mann nehmen, so wie du wünschst. Aber nur, wenn du Kai und Nino freilässt und ich mich um sie kümmern kann!«
»Du stellst hier keine Forderungen! Ich bestimme, wie es in Zukunft läuft! Ja, du wirst ab morgen wieder zu Magnus gehen und zwar täglich, und du wirst ihn zu deinem Mann nehmen! Bis zur Hochzeit bleiben deine Brüder im Keller, und für jeden Tag, an dem ich Beschwerden von Magnus höre, weil du dich ihm verweigerst oder seinen Wünschen nicht folgst, setzt es für die beiden Hiebe! Und du brauchst nicht zu denken, dass ihr von irgendeiner Seite Hilfe zu erwarten habt! In der Schule habe ich Bescheid gegeben. Die Lehrer nehmen an, dass Kai und Nino Windpocken haben und vor den Sommerferien nicht mehr zur Schule kommen können. Bis das nächste Schuljahr beginnt, vergehen mit den Ferien über zwei Monate, also genügend Zeit, die die beiden hier unten verbringen werden, und wenn du nicht spurst, werden sie für deinen Ungehorsam leiden müssen! Sobald du mit Magnus verheiratet bist, können deine Brüder wieder nach oben ins Haus, aber nur, wenn mir keine Klagen von deinem Mann kommen! Du wirst sämtliche Wünsche von ihm erfüllen! Ist das klar? Und solltest du dich jemanden anvertrauen, oder anderweitig Hilfe für deine Brüder suchen, sind die beiden schneller Tod, als du es dir vorstellen kannst!«
Vaters Worte waren die schwersten Schläge, die ich je einstecken musste. Sie glichen einem zackigen Dolch und dieser traf mit jeder Silbe mein Herz, das in tausend Stücke zerbrach.
So schlimm meine Vergangenheit auch gewesen sein mochte: Meine Zukunft würde die Hölle werden. Ich hatte keine Chance, ich musste Magnus zu Diensten sein, ob ich wollte oder nicht. Vater hielt das Wichtigste gegen mich in seiner Hand – die Unversehrtheit meiner Brüder …
Ich stand geschockt in dem modrigen Keller und vermochte mich weder zu bewegen noch zu antworten. In meinen Adern strömte die pure Eiseskälte und mein Herz hatte sich in einen schmerzenden Stein verwandelt.
»Was ist? Hast es dir die Sprache verschlagen? Es liegt ganz bei dir! Das Leben deiner Brüder liegt ab sofort in deinen Händen! Muss sich gut anfühlen, eine solche Verantwortung zu tragen, Leben retten zu können – das ist doch deine Berufung, du hilfst anderen doch so gerne. Jetzt kannst du beweisen, ob es wirklich so ist! Wirst du also deinen Pflichten nachkommen oder sollen deine Brüder weiter für dich
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