Silver Moon
büßen?«, legte Vater nach.
Ich nickte benommen und blickte zu Nino und Kai.
»Wirst … wirst du sie wenigstens von den Ketten befreien?«, wisperte ich kaum hörbar. »Sie bleiben gefesselt, basta! Aber du wirst dich um sie kümmern und ihre Wunden versorgen! Nicht, dass mir noch einer verreckt! Denn welches Druckmittel hätte ich dann gegen dich in der Hand, wo die Rotznase doch auf Klassenfahrt ist!«, sagte Vater gehässig und verlangte weiter: »Sie bekommen zweimal am Tag was zu essen, und vergiss einen Eimer nicht; den brauchen die beiden, denn ein Klo sehen sie ebenso wenig die nächsten Wochen wie fließend Wasser! Und jetzt beeile dich, ich will in mein Bett!«
Mit zitternden Händen wandte ich mich an meine Brüder. Ich streichelte sanft über Ninos Haar, liebkoste seine Wange und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
»Hör auf mit dem Scheiß! Bei dem Balg kannst du’s, aber für deinen Mann hast du nichts als eine Ohrfeige übrig! Das wird sich noch ändern!« Vaters Schelte saß. Also hatte Magnus ihm erzählt, was gestern Abend vorgefallen war. Verweint blickte ich Kai an. Er war schwach und legte mit seiner letzten Kraft seinen Arm um meine Schulter. Er flüsterte mir stöhnend ins Ohr: »Kira, lauf weg!«
Ich sah in seine Augen. Eine unglaubliche Leere lag darin. Da war nicht die Glut, die sonst aus seinen Augen strahlte, da war diesmal auch keine Wut … Das pure Nichts sah mich an! Ich schüttelte resigniert den Kopf. Nein, ich konnte nicht weglaufen und beide hier alleine lassen. Ich wusste, was ich zu tun hatte, und folgte widerstandslos meinem Schicksal, denn nur so konnte ich meinen Brüdern helfen, eine andere Wahl blieb mir nicht. Alles andere wäre zu riskant gewesen.
Ich verharrte die ganze Nacht an der Seite von Nino und Kai. Ich wusch ihnen das Blut ab, versorgte ihre Wunden, brachte ihnen Decken und Kissen, damit sie es etwas bequemer hatten. Ich gab ihnen Tee zu trinken, Schmerzpillen dazu und stellte eine große Schale mit Keksen und allerhand Süßigkeiten neben sie.
Am Morgen machte ich für beide ein reichhaltiges Frühstück – mehr konnte ich augenblicklich nicht für sie tun. Kai, der sich einigermaßen erholt hatte, redete jedes Mal, wenn er mich sah, fordernd auf mich ein. Er wollte, dass ich weglaufe. Aber wohin sollte ich gehen? Sollte ich einfach verschwinden und meine Geschwister alleine ihrem Schicksal überlassen?
Ich kannte Vater zu gut … Würde ich es wagen wegzulaufen, würde er nicht zögern und beide töten. Das wusste Kai ebenso gut wie ich, selbst Nino war sich über das gravierende Ausmaß im Klaren. Seinen Augen entnahm ich einen Hauch Dankbarkeit, als ich mich wiederholt gegen Kais Aufforderung stellte.
»Aber du kannst nicht diesen Brock heiraten, du hasst ihn doch, Kira!«, versuchte es Kai zum hundertsten Mal.
»Ja, ich verabscheue ihn, dennoch werde ich ihn heiraten müssen, Kai. Ich habe keine andere Wahl, ich bekomme eure Ketten nicht ab. Vater trägt den Schlüssel für das Schloss unentwegt bei sich! Wenn ich nicht pariere, lässt er es an euch aus und ihr habt meinetwegen schon genug einstecken müssen – jetzt bin ich dran«, flüsterte ich niedergeschlagen und ging die Treppen nach oben.
Es war Mittwochmorgen, kurz vor sieben. In einer Stunde war Schichtbeginn im Krankenhaus. Obwohl ich die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte, wollte ich unbedingt zu meiner Arbeit. Ich brauchte einfach die Normalität, die dort herrschte. Ein Leben einzig mit Brock in seiner Kneipe würde ich niemals ertragen, die Klinik war meine Zuflucht, durch sie würde ich Magnus zukünftig wenigstens stundenweise entkommen können. Übermüdet machte ich mich auf den Weg dorthin. Der Dienst fiel mir schwer an diesem Tag, ich war einfach zu erschöpft. Selbst als ich am Nachmittag kurz zu meinen Brüdern eilte, um ihnen Essen zu bringen, konnte ich mich nur schwer auf den Beinen halten. Die Gewissheit, dass ich gleich weitere acht Stunden im Brockhaus schuften und mich Magnus wieder ausliefern musste, machte mir zu schaffen. Aber noch mehr schmerzte mich die Tatsache, dass ich nicht zu Sakima gehen konnte, wie ich es ihm versprochen hatte. Er würde gewiss auf mich warten …
Ich war unsagbar traurig, als ich zum Brockhaus fuhr.
Magnus empfing mich breit grinsend, und auch die Kundschaft freute sich über mein Erscheinen. Mir war alles egal. Wie in Trance ging ich meinen Aufgaben nach. Die dummen Sprüche der Männer drangen heute nicht zu mir durch, sie
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