Silvermind (German Edition)
wusste Nero mit Bestimmtheit, dass es seine Schuld war.
„Bis wir auf Tournee gehen, haben wir eine Person.“
„Das hast du bereits letzte Woche, vor unserem zweiten Auftritt, gesagt, Nero. Merkst du nicht, dass wir niemanden finden werden? Die Nachfrage ist groß, aber das Angebot mies. Ich hoffe, du weißt, was das heißt.“
Damit verschwand Mark aus dem Raum und ließ Nero nachdenklich zurück. Klar wusste er, was das hieß. Nur hätte er sich das ganze Unterfangen nie so schwer vorgestellt.
„Scheiße!“, brüllte er lautstark. Mit einer Handbewegung wischte er den ganzen Unrat vom Tisch. Wieso war jeder dermaßen erpicht darauf, Ray in der Band zu haben?
***
Nero brauchte Inspiration und einen Ort, an dem er absolute Stille zum Nachdenken fand. Er wollte neue Songs schreiben. Allerdings hakte es. Jeder Satz, jede verdammte Zeile klang falsch in seinen Ohren. Deshalb hatte er beschlossen, einen Abstecher in die Bücherei zu machen. Lyrik und Poesie sorgten normalerweise für Anregung.
Er stieß die Tür auf und betrat den Eingangsbereich. Wärme schlug ihm entgegen, die er willkommen hieß. Draußen war es wieder verflucht kalt geworden.
Nero nickte der Bibliothekarin zu, für die er genauso unbekannt war, wie für all die anderen, die sich in diesen Räumlichkeiten aufhielten. Niemand würde ihn als das erkennen, was er war. Die schlichte Kleidung unterstrich sein unauffälliges Auftreten. Außerdem bezweifelte Nero, dass sich viele Jugendliche um diese Uhrzeit in einer Bibliothek blicken lassen würden, vor allem Anhänger der Schwarzen Szene.
Nero schlenderte durch die Reihen, überflog mit suchendem Blick die Buchrücken. Irgendwann hielt er vor einem Regal an. Er griff nach einem Gedichtband, in dem mehrere Poeten gelistet waren und überflog die Seiten. Nero hatte es nicht sonderlich mit Goethe oder Schiller, sondern bevorzugte die Dichter, die von der strengen Form abwichen. Ein paar der Gedichte gefielen ihm, also klemmte er sich das Buch unter den Arm und ging weiter.
Den nächsten Halt machte er bei musischer Literatur. Das Studieren anderer Songs war maßgebliche Pflicht für ihn. Nero hatte nicht vor zu covern, sondern einzig bezweckte er damit, dass er sich abgrenzen konnte. Wenn er wusste, was andere Bands machten, war für ihn klar, was er vermeiden musste. ´Silvermind` hatte einen hohen Wiedererkennungswert. Den wollte Nero beibehalten.
Mit mehreren Songbüchern und dem Gedichtband machte er sich auf den Weg in die Leseecke und ließ sich in einem abgeschotteten Bereich nieder. Er schlug die ersten Bücher auf, las sich in die Themen und machte dazu Notizen. Die Gedichte hatte er schnell durch, ein paar gute Ansätze gefunden, aber zufrieden war er nicht. Schließlich machte er sich über die anderen Bücher her, ging eins nach dem anderen durch, studierte die Texte anderer Dark Rock und Gothic Bands.
Nero besah sich gerade ein paar Lyrics, als hinter der Buchwand Stimmen laut wurden. Im ersten Moment bemaß er diesen keine Aufmerksamkeit und widmete sich wieder den Inhalten der Songs.
„Aber du musst mir helfen!“
„Ich bin selbst gerade beschäftigt. Das ist dein Referat.“
„Du bist unfair. Ich kann das nicht.“
„Doch. Du willst nur nicht. Strenge dich an.“
„Ochse!“, schimpfte ein Mädchen und brachte Nero zum Grinsen. Seine Konzentration war passé. Stattdessen wollte er wissen, welch kleiner Quälgeist hinter der Stimme steckte. Er brauchte sowieso eine Pause, daher traf es sich gut. Langsam stand Nero auf, streckte sich einmal und trat um die Ecke. Von dieser Position aus konnte er auf das Profil der Person sehen, die an einem der Tische saß und sich über eine Zeitung beugte. Daneben stand ein kleines, braunhaariges Mädchen, die Arme verschränkt.
„Was suchst du da überhaupt?“, fragte es und trat näher an den Mann. Nero zog eine Augenbraue hoch, als er die tiefblauen Haare registrierte.
„Einen Job. Hab ich dir vorhin gesagt.“
„Aber du arbeitest doch im Krankenhaus“, meinte das Kind und strich dem Mann die Haare aus der Stirn. Nero verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich an eines der Bücherregale. Er hatte Gewissheit. Es war Ray. Unverkennbar. Aber dieser wirkte anders als die bisherigen Male, die Nero ihn getroffen hatte. Ernster.
„Nicht mehr, meine Kleine. Ich habe dir doch vor einigen Tagen erzählt, dass ich einen Fehler gemacht habe. Mein Chef fand das nicht lustig.“
„Nur wegen einem? Das
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