Silvy macht ihr Glück
Stimme klang dunkel und ungewöhnlich warm und weich. Sie wußte es nicht, aber Jörn bemerkte es.
„Mußtest du ausgerechnet Mont-Saint-Michel wählen? Ich hatte mich so darauf gefreut, es dir zu zeigen.“
Diese Worte stachen unangenehm in Sylvis Gewissen. Und gerade um es zu betäuben, antwortete sie beinahe schroff: „Meine Güte, du hast doch kein Monopol auf Mont-Saint-Michel. Und wer weiß, ob wir nächsten Donnerstag dazu Gelegenheit gehabt hätten. Hätte ich gestern zu Jean sagen sollen: Nein, leider, Mont-Saint-Michel hatte ich für einen anderen vorbehalten?“
„Oh, bitte sehr, meine Gnädige! Ich ahnte ja nicht, daß es in deinem Dasein einen Jean gab. Aber ich finde, Frankreich ist so reich an schönen Ausflugszielen, daß du nicht gerade dieses eine wählen mußtest. Ich hatte mich so verdammt darauf gefreut, es mit dir gemeinsam zu sehen.“
Jetzt war Sylvis Gewissen ausgesucht schmerzhaft.
„Uff-Jean-“
„Du versprichst dich. Ich heiße zufällig nicht Jean. Übrigens schlage ich vor, daß wir jetzt heimfahren.“
Dann saßen sie wieder im Auto und schwiegen lange. Endlich sprach Jörn.
„Verzeih mir, Sylvi, ich war wohl etwas zu heftig. Du konntest ja nicht wissen, daß ich mich wie ein Kind auf diesen Ausflug gefreut hatte. War es nicht schön auf Mont-Saint-Michel?“
„Wunderbar. Diese Flut…“
„Ja, die ist phantastisch. Hast du das ganze Kloster gesehen? Die Tretmühle über dem Brunnen?“
„Ja, alles. Jean erklärte es mir und führte mich.“
„Ja, ja, natürlich ist es noch besser mit einem eingeborenen Führer. Denn dein Herr Jean ist doch wohl Franzose?“
„Ja, Pariser.“
„Hm.“
Dieses „Hm“ irritierte Sylvi auf einmal über alle Maßen.
„Da brauchst du gar nicht ,hm’ zu sagen.“
„Hm“, machte Jörn erneut. Dann sagte er langsam: „Erinnerst du dich, wovon wir sprachen, als wir Obst pflückten, Sylvi? Über die Ansichten, die Franzosen von Frauen haben?“
„Ja.“
„Sei also vorsichtig, Sylvi. Ein Franzose kann es leicht mißverstehen, wenn ein junges Mädchen so frei und ungezwungen in ihrem Wesen ist.“
„Ach, sei unbesorgt. Über diese Seite der Sache haben wir gesprochen.“
„Ja, ja. Ich kenne die Franzosen ein wenig, siehst du. Ich werfe ihnen nichts vor. Man kann den Angehörigen eines Volkes nicht vorwerfen, was ihnen durch Generationen anerzogen worden ist.“
„Das ist ja sehr edel von dir.“
„Nanu, Sylvi, warum denn so spitz?“
Ja, warum war sie denn eigentlich so spitz? War es, weil Jörn einen sehr empfindlichen Punkt bei ihr berührt hatte? Weil er an die Unsicherheit rührte, die sie Jean gegenüber empfand, trotz all seiner warmen Worte, trotz seiner Liebkosungen und seiner offenkundigen Bewunderung?
Sie waren angekommen. Jörn fuhr den Wagen an die Rückseite des Hotels. Sie standen unten an der Treppe und blickten einander ernst an.
„Verstehst du das nicht, Sylvi? Ich will doch bloß, daß du gut auf dich aufpaßt. Denke daran, was ein Franzose von einem Mädchen glauben muß, das frei und unbeschützt umhergeht. Und erinnere dich daran, Sylvi: Was nach norwegischer Auffassung bloß eine unschuldige Form des Flirtens ist, eine kleine Liebkosung, vielleicht ein Kuß, das bedeutet etwas ganz anderes hier, das drückt einem Mädchen einen Stempel auf und dem betreffenden Mann ebenso.“
Da kochte die Wut in Sylvi hoch. So wagte er es, von Jean zu reden! Von Jean, der immer, immer so korrekt war. Daß er sie geküßt hatte, weil er sie liebte, dessen war sie sicher! Und morgen, morgen würden sie ernsthaft miteinander sprechen, und sie wußte sehr gut, wovon Jean sprechen würde.
„Vielen Dank für deine guten Ratschläge. Das nächstemal, wenn Jean Annäherungsversuche macht, werde ich mich daran erinnern und ihm sagen, daß er ein artiger Junge sein muß. Denn jetzt weiß ich Bescheid! Jetzt habe ich von einem Kellner auf einer Hintertreppe Unterricht in Lebensweisheit bekommen!“
„Sylvi!“
Jörns Wangen waren brennend rot. Er stand vor ihr, groß und stark, das helle Haar in Unordnung nach der Autofahrt. Wenn Sylvi wütend war, so war es Jörn nicht minder. Er griff sie mit der linken Hand an der Schulter, und sie jammerte unter seinem Eisengriff.
„Schäme dich! Schäme dich!“ Und zum erstenmal seit dreizehn Jahren bekam Sylvi eine Ohrfeige.
Dann war Jörn im Halbdunkel verschwunden. Und während Sylvi über die Hintertreppe auf ihr einsames Zimmer schlich, liefen ihr Tränen über das
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