Silvy will die Erste sein
hättest, wäre ich niemals auf die Idee gekommen, mich in
dieses Abenteuer zu stürzen.“
„Oh, Silvy, Silvy, weißt du
denn überhaupt, was du da sagst?“ Jetzt sprangen tatsächlich die hellen Tränen
aus Leonores Augen.
„Natürlich weiß ich das. Ich
bin doch nicht schwachsinnig.“
„Du weißt es nicht, Silvy,
sonst würdest du nicht weiterrennen!“ Wie auf ein Kommando blieb Silvy stehen.
„Was soll denn das nun wieder heißen?“
„Du hast eben bewiesen, daß wir
uns verirrt haben, und hast es nicht einmal gemerkt!“
„Wieso? Das ist doch noch gar
nicht raus.“
„Doch, Silvy! Denn wenn du
damit rechnest, daß Mohrchen eine aus unserer Klasse zurückgeschickt hat, um
uns zu suchen, dann müßte sie uns längst begegnet sein. Wenn dies der Weg zur
Auer Mühle wäre. Aber er ist es nicht.“
Silvys Gesicht war lang und
länger geworden, und dann sagte sie etwas, was sie ungeheuere Überwindung
kostete: „Kruzitürken, du hast recht.“
Leonores Tränen versiegten, sie
wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und sagte aufatmend: „Bin ich
froh, daß du es endlich einsiehst.“
Aber Silvys Gesicht blieb
düster. „Na und? Was nutzt uns das?“
„Wir wissen jetzt, daß wir
zurück müssen. Wir haben gar keine andere Wahl. Wenn wir Glück haben, wartet
doch noch jemand an der Kreuzung auf uns. Katrin wird vielleicht einen Posten
aufgestellt haben, und wenn nicht, können wir ja immer noch bis zur Busstation
gehen. Irgendwann müssen die anderen ja wieder dorthin kommen.“
„Ja“, sagte Silvy, „und dann
stehen wir beide da wie zwei arme Würstchen, lassen uns von Mohrchen
zurechtstauchen und von den anderen erzählen, wie herrlich es bei der Auer
Mühle war.“
„Aber ich habe dir doch schon
vorhin vorgeschlagen, wir können uns etwas ausdenken...“
„Können wir das? Können wir das
wirklich? Nein, Leonore. Ich kann nicht lügen, und du hast keine Phantasie. Ja,
Katrin würde mit Leichtigkeit etwas erfinden, daß sich die Balken biegen, aber
ich bin nicht Katrin, und ich möchte auch niemals so sein.“
„Dann erzählen wir einfach, wie
es wirklich war. Es ist doch keine Schande, daß wir uns verlaufen haben.“
Silvy reichte Leonore die Hand
und sagte mit Grabesstimme: „Lebe wohl. Nein, nein, ich bin dir nicht böse,
aber es hat keinen Sinn, wenn wir noch mehr Zeit mit nutzlosen Diskussionen
vertrödeln. Es ist besser, jede tut das, was sie für richtig hält.“ Leonores
immer noch tränennasse Augen wurden rund vor Entsetzen. „Du willst mich doch
nicht etwa allein lassen? Mitten im Wald?“
„Es kann dir nicht das
geringste passieren, Leonore. Du brauchst nur auf die dir inzwischen wohl
weidlich bekannte rote Markierung zu achten, dann landest du unweigerlich an
der Straße, die zur Endstation vom Bus führt, also genau dahin, wo wir
ausgestiegen sind.“
„Und du?“
„Ich werde mir etwas anderes
ausdenken.“
„Was?“
„Das werde ich dir nicht auf
die Nase binden. Du würdest dich doch nur darüber aufregen und versuchen, mich
davon abzuhalten und so weiter und so fort. Aber davon habe ich genug. Ich
weiß, was ich zu tun habe. Der Starke ist am mächtigsten allein.“ Silvy drehte
sich auf dem Absatz um und marschierte weiter.
Leonore stand einen Augenblick
unschlüssig. Sie sah Silvy nach, die sich hoch erhobenen Hauptes entfernte, und
sie kam sich auf einmal sehr klein und verlassen vor. Am liebsten wäre sie der
Freundin nachgelaufen.
Aber noch war ihre Vernunft
stärker. Sie wußte, daß sie jetzt nur die Augen offenhalten mußte und den Weg
zurück dann gar nicht mehr verfehlen konnte. Es war ihr auch ganz gleich, ob
die anderen sie auslachen oder Frau Dr. Mohrmann mit ihr schimpfen würde.
Wichtig war nur, daß sie heil und gesund aus diesem Wald herauskam und
möglichst rechtzeitig die Stadt erreichte, um ihre Mutter im Krankenhaus
besuchen zu können.
Sie wandte sich zögernd um und
machte sich auf den Rückweg. Doch wohl fühlte sie sich nicht dabei. Durfte sie
Silvy denn so einfach mitten im Wald verlassen? Was sollte sie Frau Dr.
Mohrmann antworten, wenn sie sie nach Silvy fragen würde? War es nicht Verrat,
was sie da tat?
Leonore schüttelte den Kopf.
Nein, versuchte sie sich einzureden, das ist doch alles Unsinn. Was könnte ich
denn für Silvy tun. Sie weiß doch genau Bescheid, und trotzdem rennt sie in die
verkehrte Richtung. Sie ist einfach unbelehrbar, und im Grunde hat sie einen
kleinen Denkzettel bestimmt verdient.
Sie
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