Sind wir nun gluecklich
Zugegeben, Taiwans Demokratisierungsprozess hatte rapide Fortschritte gemacht, aber dennoch ließ ein solches Unglück erkennen, dass es mit der Effizienz der staatlichen Katastrophenhilfe nicht weit her war. Es fehlten noch ein paar wichtige Schritte, um die Demokratie die richtige Balance zwischen Gerechtigkeit und Effizienz finden zu lassen und sich zu entscheiden, ob man eine Sache nur machen oder ob man sie richtig machen wollte. Ich sprach mit dem Leiter der Arbeitsgruppe, die den Einsatz von Helfern aus der Volksrepublik China koordinierte. Er weinte. Die Arbeit war ineffizient, es kam nichts dabei heraus, weil man einfach nicht so arbeiten konnte, wie man sollte. Die Mitarbeiter aus Taiwan arbeiteten nach der Stechuhr, als gebe es keine Dringlichkeit. Wörtlich sagte er zu mir: »Auf dem Festland wären wir schon längst mit unserer Arbeit fertig, während wir hier gerade einmal zwei provisorische Häuser hingestellt haben.«
Das ist keine Frage von Demokratie, sondern eine Frage des Fortschritts innerhalb der Demokratie. Taiwan spielte in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle, sowohl was seine Erfolge als auch die Lehren betrifft, die man aus seinen Niederlagen ziehen kann. Sie können viel mehr Menschen als nur den Taiwanesen zur Vermeidung von Umwegen und Irrtümern dienen. Nachdem wir uns von der Überlegenheit Taiwans bezüglich der Hardware überzeugt haben, müssen wir uns noch überlegen, wie wir die Tauglichkeit seiner Software bewerten und damit umgehen sollen.
Man singt auch für die Verlierer
In einem Zeitraum von knapp zehn Tagen kam ich, vom Dorf Xiaolin bis zum Berg Alishan, mit den obdachlos gewordenen und Hinterbliebenen der Opfer, kurz, mit all den Verletzungen in Berührung, die die Natur Taiwan zugefügt hatte. Durch einen Zufall wurde ich in der von einer friedlichen und warmen Luft erfüllten Nacht vor meiner geplanten Abreise darüber hinaus mit einer anderen der großen Wunden Taiwans konfrontiert, die nichts mit der Natur, sondern mit der Geschichte des Landes zu tun hatte.
Meine Arbeit war beendet, und für den nächsten Tag stand mein Rückflug an. Also fuhr ich zurück nach Taipei, machte die letzte Livereportage und nahm noch an einem Abschiedsessen teil. Es war spät, als ich ins Hotel kam, aber ich konnte nicht schlafen. Ich dachte an die Vorzüge der rund um die Uhr geöffneten Chengpin-Buchläden, also machte ich mich allein noch einmal zu Chengpin auf.
Zwei Bücher auf den Stapeln der Bestseller fesselten schnell meine Aufmerksamkeit. Eins davon war Lung Ying-tais Großer Fluss und weites Meer: 1949 und das andere Taiwan, bitte hör mir zu .
Auf dem Klappentext von Lung Ying-tais Buch las ich: »Alle schmerzlichen Abschiede finden an einem Hafendock statt. Man geht an Bord und beginnt ein neues Leben. Dieses Buch lenkt den Blick auf unsere Väter, auf eine Generation, die wortlos an ihren Wunden litt und leidet. Dies ist das Jahr 1949, wie Sie es bisher nicht gekannt haben.«
Ähnliches auf der Rückseite des Covers von Taiwan, bitte hör mir zu : »Sechzig Jahre lang unterdrückt, gebrochen und wiedergeboren.«
1949. Sechzig Jahre. Das waren mir sehr geläufige Schlagwörter in diesem Jahr, aber sie versetzten mir einen Stich. Diese Bücher veränderten meinen Blickwinkel schlagartig.
Es war der 9. Februar 2009 kurz vor Morgengrauen. Nach meiner Rückkehr nach Peking würde ich mich mit voller Kraft in die Arbeit an den Reportagen zu den Feierlichkeiten von »Sechzig Jahre Volksrepublik China« stürzen. Es ging um eine Jubelfeier, die die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich zog: ein Festakt und ein Jubiläum, die sowohl wegen des Datums als auch wegen der Zeitspanne »sechzig Jahre auf der Seite des Siegers« bedeuteten.
In dieser Nacht im Buchladen jedoch, als ich jene beiden Bücher betrachtete, standen vor meinen Augen plötzlich die sechzig Jahre der Verlierer. Diese Seite der Medaille hatten wir in der Vergangenheit tunlichst vergessen und wollten auch nicht daran erinnert werden. Vor sechzig Jahren hatte es unzählige Abschiede an Schiffs- und Flughäfen gegeben, bei denen Menschen ihre Liebsten und ihr bisheriges Leben hinter sich ließen. Auf welche Weise hatten sich all die Tränen, Sehnsüchte, Entbehrungen, die Verzweiflung und das Glück von Millionen vom Festland nach Taiwan geflüchteten Chinesen miteinander verwoben?
Ich hatte mich Taiwan noch nie so nah gefühlt wie in dieser Nacht. Lung Ying-tai, Nachfahrin der Generation der Verlierer, sang
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