Sind wir nun gluecklich
Entspannung war dadurch erreicht, dass sogar einfache Leute aus China problemlos nach Taiwan reisen durften. Ich bin mir sicher, dass wir auch nie mehr zu den Zeiten meines ersten Besuchs, die von Nervosität und Tabus geprägt waren, zurückkehren werden.
»Zwischen den Freunden geht es immer höflicher zu. / Kein Wunder, denn sie sehen sich nicht mehr immerzu …«: So heißt es in einem Gedicht von Luo Dayou. Was aber, wenn man sich immer häufiger sieht? Gewiss kein Grund, weniger höflich zu werden; eigentlich kann man sich nur immer besser verstehen.
Wenn man mehr Umgang miteinander pflegt, kann man auch immer wieder neue Erfahrungen sammeln. Und dabei sind nicht immer nur wichtige Erfahrungen sondern auch verletzende, äußerlich wie innerlich.
Die Katastrophe vom »achten Achten«
Am 8. August 2009, genau ein Jahr nach der Eröffnung der Olympischen Spiele von Peking, wurde Taiwan von einem verheerenden Taifun wundgeschlagen. Ein kleines Dorf namens Xiaolin wurde innerhalb kürzester Zeit dem Erdboden gleichgemacht, und über hundert Dorfbewohner wurden getötet. Ganz Taiwan war im Alarmzustand, die allgemeine Trauer und die Anteilnahme der Bevölkerung glichen dem Zustand Chinas nach dem Erdbeben von Wenchuan im Frühjahr 2008.
Wenige Tage nach dem Inferno erhielt ich den Auftrag, aus Taiwan über das Unglück zu berichten. Ich machte mich ohne Zögern auf den Weg.
Nun gab es Direktflüge, und ich brauchte nur knappe zwei Stunden, bis ich da war, und eine weitere Stunde, bis ich mit dem Schnellzug Kaohsiung erreichte.
Der Weg, der mich anschließend bis nach Xiaolin und andere von der Katastrophe betroffene Orte führte, war um einiges beschwerlicher. Die ungeheure Kraft des Wirbelsturms war mit bloßem Auge zu erkennen, überall gab es massive Erdrutsche, Straßen waren blockiert, Brücken eingestürzt, und Tempel dienten als Notunterkünfte für die obdachlos gewordene Bevölkerung, ebenso die normalerweise für die Berichterstattung über China genutzte Rundfunkstation. Katastrophenhilfe war in diesem Moment erste Bürgerpflicht.
In Xiaolin angekommen, wusste ich auf den ersten Blick von einer Anhöhe aus, dass ich das Bild vor meinen Augen nie vergessen würde. Das Schreckliche an diesem Eindruck war nicht das, was man mit bloßem Auge sah. Ein Bergrutsch hatte so gut wie alles unter sich begraben, nur zwei ursprünglich wohl relativ hohe Gebäude standen noch, und durch die neu entstandene Oberfläche zogen sich breite Wassergräben. Wenn meine Begleiter mir nicht gesagt hätten, dass unter dieser Erde das einstige Dorf Xiaolin begraben lag, hätte man annehmen können, hier hätte es nie ein Dorf gegeben.
Da wir nun einmal hier waren, wollten wir uns das Ganze nicht nur aus der Ferne ansehen. Wir standen oberhalb des Tals, es hieß daher zunächst nach unten klettern, dann musste man die überall auftauchenden Wassergräben überqueren. Das Filmteam konnte ich deswegen unmöglich mitnehmen. Ich aber ließ mich nicht abschrecken und schlitterte den Abhang hinunter, stapfte und watete einige hundert Meter weit. Es dauerte etwa vierzig Minuten, bis ich bei den stehen gebliebenen Häusern ankam. Überall waren Spuren des Lebens erkennbar. Vor der Tür standen zwei Hunde, stumm, wie angewurzelt, als würden sie auf ihre Rettung warten. Bei näherem Hinsehen erkannte man, dass es sich bei einem der Häuser um ein religiöses Gebäude gehandelt hatte. Schade, dass die Religion im Augenblick der Katastrophe nur das Haus beschützt hatte und nicht das Leben der Dorfbewohner.
Schweigend trat ich den Rückweg an. Jetzt hatte ich wirklich verstanden, welches Leid der Wirbelsturm der Insel zugefügt hatte. Taiwan ist nicht groß, jede etwas größere Naturkatastrophe kann gleich zu einer Tragödie für die Gesamtbevölkerung werden. Und genauso provoziert auch ein Mangel an Hilfe bei der ganzen Bevölkerung eine unglaubliche Wut. Von einer Verheerung, wie der »achte Achte« sie herbeigeführt hatte, ganz zu schweigen.
Da waren die schockierenden Bilder, die »Haitang « hinterlassen hatte, und die heimatlos gewordenen Unglücksopfer; und da war das Volk, das entweder seinen Ärger hinunterschluckte oder die Verantwortlichen suchte und lauthals beschimpfte.
Tagtäglich zeigten die Medien mit dem Finger auf Beamte, die am Unglückstag an einem Bankett teilgenommen hatten, und prangerten unbekümmertes oder verantwortungsloses Verhalten an. In den betreffenden politischen Talkshows ging es hoch her.
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