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Sind wir nun gluecklich

Sind wir nun gluecklich

Titel: Sind wir nun gluecklich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bai Yansong
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die Perspektive ändern und nicht verzweifeln, denn im Grunde kann man überall und jederzeit Dichter finden.
    Beginnen wir bei den Politikern, zum Beispiel den Ministerpräsidenten. Zweimal hatte ich die Ehre, auf Zhu Rongji zu treffen, einmal bei einem Empfang für die Familien, die bei der versehentlichen Bombardierung der chinesischen Botschaft Ex-Jugoslawiens ihre Angehörigen verloren hatten. Wir gaben uns die Hand, und ich merkte, wie schwer es dem Präsidenten fiel, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Das zweite Mal war bei einem Empfang für das olympische Team nach der Olympiade von Sydney. Eine junge Spielerin der Frauenfußball-Auswahl berichtete, wie sie nach ihrem Ausscheiden mit der Mannschaft am nächsten Morgen den Bus bestiegen, um nach Hause zu fahren, und dann unerwartet die siegreichen Gegnerinnen der amerikanischen Mannschaft auftauchten, um sie zu verabschieden … Ich bemerkte, wie sich die Augen des Ministerpräsidenten röteten. Dieser Mann bewahrte zwar nach außen hin stets eine würdevolle Haltung, aber im Grunde war er ein sehr emotionaler Mensch. Es wunderte mich daher nicht, als er einmal während eines Presseempfangs in einer für politische Kreise ungewohnt poetischen Manier sprach: »Ganz gleich, ob vor mir das Grollen des Donners oder ein unendlicher Abgrund lag, habe ich mich auf keine Kompromisse eingelassen und bin mutig meinen Weg weitergegangen.« Und es verwundert nicht, dass er damit einen tiefen Eindruck hinterlassen hat.
    Im Jahr 2003 nahm ich zum Yuanxiao-(Laternen-)Fest am 15. des ersten Monats nach dem chinesischen Kalender an der Verabschiedung Zhu Rongjis aus dem Amt teil. Ich sagte zu ihm: »Sie haben schwer gearbeitet.«
    Er lachte und meinte: »Und Sie müssen noch schwer arbeiten!«
    Daraufhin sagte ich: »Wenn ein großer Politiker geht, werden sich die Leute gern an ihn erinnern.«
    Er erwiderte halb spöttisch, halb im Ernst: »Wenn sie sich an meinen Namen erinnern, ohne auf mich zu schimpfen, wäre das schon nicht schlecht!«
    Nach seinem Fortgang war noch viel von der harten Hand die Rede, mit der er die Regierungsgeschäfte geführt hatte, aber der Vizegouverneur einer der benachteiligten Provinzen im Westen sagte einmal zu mir: »Haben Sie schon einmal gehört, dass die Armen sich über Zhu Rongji beschwert hätten?«
    Nach seiner Pensionierung zeigte sich Zhu Rongji nur selten in der Öffentlichkeit; es heißt, er widme sich seiner Liebe zur Natur und der Peking-Oper. Für mich klang das gut. Nun hatte er mehr Zeit, seiner poetischen Ader freien Lauf zu lassen.
    Nicht nur Zhu Rongji hatte diesen Zug, auch Wen Jiabao war ähnlich gestrickt, wenn er auch einen ganz anderen Stil hatte. Zhu Rongji war von der Natur eines Li Bai, während Wen Jiabao eher an Du Fu erinnerte. Zhu war eher ein Wudang-Kämpfer und Wen ein Shaolin-Schüler, aber beiden wohnte das Herz eines Poeten inne. Das zeigte sich nicht nur an den poetischen Reden, die Zhu Rongji vor Journalisten hielt, sondern auch an Bonmots wie der einmal von ihm formulierten Hoffnung, er wünsche sich Menschen, »die nach den Sternen sehen«. Für mich liegt gerade im Bekenntnis zu einer »würdevollen« Politik ein poetischer Akt. Würde kann man nicht essen, aber sie ist wichtiger als Essen. So wie auch Gedichte keinen unmittelbaren Nutzen haben, ihr Wert aber gerade darin besteht, dass sie nicht »nützlich« sind. Für mich ist die Betonung von »Würde« das erste poetische Ziel der Politik, das in dreißig Jahren Reformperiode formuliert worden ist.
    Deshalb wünsche ich mir auch immer, in der Politik hin und wieder auf ein Gedicht zu stoßen, ein gutes Gedicht, das die Politik weniger kalt und utilitaristisch macht.
    Doch das betrifft nicht nur die Politik, ich denke, jeder von uns sollte im tagtäglichen Wettbewerb in seinem Leben Platz für etwas Poesie einräumen. Denn sonst wissen selbst die Blumen nicht mehr, für wen sie blühen, und unser Leben verwelkt mit ihnen. Wir sollten die Poesie in unsere Lebensideale aufnehmen, denn wenn es nur um harte Fakten und materialistische Ziele geht, wird unser Leben zu Schwerstarbeit, und die Realität macht uns verrückt.
    Ich gebe mich optimistisch. Während viele Leute bedauern, dass die Dichter ausgestorben sind, suche ich sie in meiner unmittelbaren Umgebung. Immer versuche ich bei ihnen den Sinn für Poesie zu entdecken; und wenn ich ihn finde, suche ich stärkeren Austausch mit diesen Personen, zuweilen ihre Freundschaft. Wo ich nichts

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