Sind wir nun gluecklich
ihrem Zweifel eine gewisse Härte besaßen, sie waren hundert Prozent Kalzium.
Diese Gedichte waren bei jeder neuen Begegnung heftig und stimulierend, und wenn ich jetzt daran zurückdenke, erkenne ich mit größerer Sicherheit als damals, wie mein ganzer Erfahrungshorizont und mein Denken heute mit einzelnen Gedichtzeilen zusammenhängen. Als ich die Uni abschloss, ging mir ein schmales Bändchen mit schwarzem Einband, Gedichte Bei Daos , verloren; ich weiß noch, wie sehr ich unter diesem Verlust litt. Ich habe seither noch vieles verloren, aber diese eine Trennung habe ich noch immer nicht verschmerzt.
Im Jahr meines Hochschulabschlusses ging auch Bei Dao fort, mit der chinesischen Sprache als einzigem Gepäckstück, wie er sagen würde, und zog durch die Welt. Viele, viele Jahre später tauchte wieder ein blassgrünes Bändchen mit seinen Gedichten in einem Buchladen auf. Ich war richtig aufgeregt, und um den Verlust der schwarzen Anthologie zu kompensieren, kaufte ich gleich mehrere Bände und verschenkte sie an Freunde, außer mir vor Freude, als hätte ich mir ein Stück Vergangenheit zurückgekauft. Von da an wurde es wesentlich einfacher, seinen Schriften zu begegnen, obwohl er inzwischen mehr Essays als Gedichte schrieb. Doch beim Lesen dieser Essays merkte man gleich, dass ihr Gerüst immer noch Gedichte waren, die Zeit hatte sie einfach in die Länge gezogen und zu Essays anwachsen lassen, die den Lesern tiefe Furchen ins Herz rissen. Das Exilleben hatte auch sein Gutes, denn wäre Bei Dao in den vergangenen zwanzig Jahren in Peking geblieben, würde es jetzt Werke wie Öllampe oder Mitternachtstor nicht geben. Vielleicht wären sie genauso lang, aber von anderer Qualität. Aus Distanz entsteht nicht unbedingt größere Schönheit, aber sie führt zu einer gewissen Besonnenheit. Man lässt sich aus der Distanz trotz der Schnelllebigkeit des Zeitalters nicht dazu verleiten, die eigene Denkart den Moden anzupassen.
Bei Dao war nicht der Einzige, der in jenem Jahr das Land verließ, mit ihm gingen zahlreiche andere. Einer ging mit ihm, der damals etwa im gleichen Alter war wie wir selbst. Sein Name war Haizi, und er ging für immer. 44
Zu Lebzeiten wurden seine Gedichte nicht so viel gelesen, erst nach seinem Tod stürzten sich alle auf seine Werke. »Dem Meer zugewandt, wie eine Blüte im warmen Frühlingswind« ist bereits zu einem geflügelten Wort geworden und wird immer wieder zitiert, sogar als beliebter Werbespruch für Immobilien. Ich nehme an, dass das nicht in Haizis Absicht lag, denn er selbst verstand seine Zeilen sicher ganz anders, als sie heute gelesen werden. Am liebsten sind mir immer noch zwei seiner Gedichte, ein sehr großes, »Vaterland«, und ein kleines, »Tagebuch«. »Vaterland« beginnt mit den Zeilen: »Ich möchte ein loyaler Sohn in der Ferne sein / Mit einer vergänglichen Geliebten / So wie alle Dichter, die Träume zu Pferden machen / Ich kann nicht anders, als den Weg der Märtyrer und der Clowns zu gehen …« Das zweite Gedicht, das er im Zug durch die Wüste Gobi, in Delingha, verfasst hat, endet mit den Zeilen: »Schwester, heute Nacht / Kümmert mich die Welt nicht / Ich denke nur an dich.« Dieses Gedicht hat mich immer berührt. Egal, an wen es gerichtet ist, es ist ein Liebesgedicht, und es gibt nicht viele gute Liebesgedichte. Das ist für mich eins davon.
Nun, wo er schon seit über zwanzig Jahren tot ist, wird seiner mit großem Pathos gedacht, viele Geschichten werden über ihn erzählt, aber seine Gedichte haben die wenigsten gelesen. Ich fürchte, Haizi wird fortan nur noch mit »Dem Meer zugewandt, wie eine Blüte im warmen Frühlingswind« in Verbindung gebracht werden und das, was er nie erreicht hat, damit zu seinem Wahrzeichen werden. Aber so ist das nun einmal, Dichter werden immer falsch verstanden. Bei Dao kam zwanzig Jahre nach 1989 nach Hongkong, die chinesische Sprache war schon nicht mehr sein einziges Gepäckstück, auch nach Peking ist er inzwischen mehrmals zurückgekehrt, als sei alles alt und vergessen, als seien die gezogenen Waffen, mit denen man sich einst gegenüberstand, ein Witz, der sich über uns und die Geschichte lustig macht. Können Leidenschaften altern, wo neu nur noch die Einsamkeit der Menschen in den Städten ist? Können die alten Antipathien und Sympathien sich über die Jahre harmonisieren und in Luft auflösen?
Wo die wahren Dichter alle verschwunden sind, suche ich sie umso mehr unter den Menschen. Man muss einfach
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