Sind wir nun gluecklich
Gefühl, mich völlig in der Musik zu verlieren, kannte ich zuvor nur von der psychedelischen Rockmusik Pink Floyds, es gab für mich nur noch die Welt der Musik, die reale Welt schien vollkommen verschwunden.
Diese eine Sinfonie brachte in wenigen Minuten meine bisherige Rangfolge von großen Dirigenten durcheinander. Fortan war Kleiber bei mir die Nummer eins, und ich setzte alles daran, ein Bild von ihm zu bekommen.
Etwas von ihm zu finden war eine sehr einfache und zugleich sehr schwierige Sache. Einfach war sie deshalb, weil es nur sehr wenige Aufnahmen von ihm gab, denn er war kein Freund von Studioaufnahmen, sondern gab lieber öffentliche Konzerte. Doch selbst diese waren rar. Es heißt, normalerweise verbarg er sich fernab der Massen auf dem Land, bis ihm daheim der Alkohol ausging. Dann erst schickte er eine Postkarte an die Welt da draußen, woraufhin sich sofort die großen Orchester zur Stelle meldeten. Daraufhin kam der Meister aus seinem Versteck, gab das eine oder andere Konzert und war wieder verschwunden, die Welt voller Erwartungen und Neugier auf das nächste Konzert zurücklassend. Von daher waren die Alben mit seinen Aufnahmen an beiden Händen abzählbar. Dennoch gibt es einen Aspekt, der ihn wirklich groß macht – auch wenn seine Aufnahmen rar sind, ist so gut wie jede von ihnen ein Meisterwerk und gilt als eine der besten Einspielungen unter einer großen Zahl des gleichen Repertoires. Deshalb ist er legendär. Doch darin liegt eben auch die Krux, denn wer den Zauber seiner Aufnahmen liebt und sie alle schon unzählige Male wieder gehört hat, verlangt nach mehr und bekommt es nicht. Aber damit muss man sich abfinden, es gibt Dinge, die einem vielleicht gar nicht mehr gefallen, wenn man zu viel davon bekommt; plötzlich ist man enttäuscht. Die einzige Aufnahme von etwas wirklich Gutem ist manchmal schon genug, denn sie wird niemals an Bewunderung einbüßen.
Wenn es nach mir ginge und ich eine einzige Aufnahme von Carlos Kleiber empfehlen müsste, dann würde ich trotz meiner Begeisterung für seine Einspielung der siebten Sinfonie von Beethoven seiner Aufnahme von Brahms’ vierter Sinfonie den Vorzug geben. Ich hatte vordem schon einem Dutzend anderen Versionen der vierten Sinfonie von Brahms gelauscht, aber nachdem ich die Kleibers gehört hatte, dachte ich: »Das ist die vierte Sinfonie von Brahms, alle anderen Aufnahmen sind etwas anderes.«
Ich habe mich selbst schon oft gefragt, warum ausgerechnet Kleiber es mir so angetan hat, aber dafür lassen sich keine rationalen Gründe finden, das hat etwas mit Intuition und einem dunklen Gefühl zu tun, so wie man bei vielen Dingen des Lebens nicht genau sagen kann, warum man Zu- oder Abneigung für sie empfindet.
Ein kleines Detail hat mich dennoch beinah schockiert, nachdem ich es herausgefunden hatte. Ich schätzte ihn schon lange Zeit und war immer auf der Suche nach Informationen über Kleiber, aber in den neunziger Jahren gab es kein Internet, und die einheimischen Medien redeten alle nur von Karajan und Bernstein, mein Lieblingsdirigent stand bei ihnen nie hoch im Kurs. Schließlich fand ich, was ich suchte, und bekam heraus, dass Kleiber als Kind während des Kriegs nach Argentinien auswanderte und im Land der Pampa groß geworden ist. Nun hatte ich doch eine Art Antwort auf meine unergründliche Vorliebe für Kleiber gefunden. Bei mir daheim hängen die Porträts dreier Ausländer, alle sind sie Argentinier oder haben einen Bezug zu Argentinien: Einer ist Gabriel Batitusta, der zweite Che Guevara und der dritte also Carlos Kleiber. Wirklich seltsam, dass ich das erst herausfand, nachdem ich ihn bereits lange verehrt hatte. Ein Fan des argentinischen Fußballs war ich zu diesem Zeitpunkt wie gesagt schon längst.
Ich verstand also ein wenig besser, warum mich seine Musik so faszinierte: Ich fand darin nicht nur die würdevolle Strenge des alten Europa, sondern auch die Leidenschaft und die Romantik Südamerikas, darin bestand seine Einzigartigkeit. In den vergangenen Jahren sind die Wiener Neujahrskonzerte in China populär geworden, aber die vortrefflichsten Neujahrskonzerte liegen schon länger zurück, es waren die von 1989 und 1992, als Carlos Kleiber Dirigent des Ereignisses war. Am besten hört man sich diese Konzertmitschnitte nicht auf CD, sondern sieht sie sich auf DVD an, beim Zusehen bekommt man ein viel besseres Gefühl für Kleibers Charme, denn der Ausdruck nobler Gelassenheit und die Eleganz seiner Gesten sind
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