Sind wir nun gluecklich
kleiner Runde das Wort zu ergreifen, aber unerwartet forderte mich der Ministerpräsident gegen Ende der Zusammenkunft selbst dazu auf. Ehrlich meine Meinung zu sagen erschien mir angesichts der gerade überstandenen SARS-Krise zwar ein wenig unhöflich, doch ich wollte die Gelegenheit auch nicht ungenutzt verstreichen lassen:
»Herr Ministerpräsident, Sie haben in Ihrer Rede vorhin gesagt, dass man als Politiker sachlich bleiben müsse, aber wie macht man das? Es heißt oft, Journalisten seien ungekrönte Könige, aber ich halte es da eher mit den Worten Joseph Pulitzers: Journalisten sind die Späher auf dem großen Schiff der Gesellschaft, sobald sie auf dem weiten Meer etwas Gutes oder Schlechtes entdecken, sehen sie es sich mit dem Fernglas genauer an und informieren die Passagiere und den Kapitän, damit über den weiteren Kurs des Schiffes entschieden werden kann. Wenn der Reporter aber nur über das Gute und nicht über das Schlechte berichten darf, kann dann das Schiff nicht schnell Schiffbruch erleiden wie die ›Titanic‹? Wie kann der Kapitän da sachlich bleiben und weiter seinen Kurs verfolgen?«
Ich sah, dass der Ministerpräsident sich ruhig Notizen machte, also fuhr ich fort:
»Früher hatte man Angst, dass durch Medienberichte über eine Katastrophe eine Panik ausbrechen und Unruhen entstehen könnten. Doch die Erfahrung mit der SARS-Krise hat gezeigt, dass die offene und schnelle Berichterstattung keine Unruhen provoziert, sondern im Gegenteil zur Stabilität beigetragen hat. Darüber hinaus hat sie dazu geführt, dass die Leute sich zusammengeschlossen haben, von den Politikern bis zu den Wissenschaftlern, von den Medizinern bis zu jedem Glied der Gesellschaft, und wir durch Geschlossenheit den Kampf gegen die Krankheit gewonnen haben. Es wäre schön, wenn Sie zu gegebener Zeit gezielt den Frauen in diesem Land danken würden, denn sie waren es, die in den Familien über das Händewaschen und die Hygiene gewacht haben. Und dass sie das konnten, war ja doch den Medien zu verdanken, die sie über die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen informiert haben.«
Den letzten Satz wollte ich ein bisschen scherzhaft verstanden wissen, um die Stimmung etwas zu lockern. Etwas mutiger fügte ich noch hinzu:
»Ich persönlich kritisiere die Ministerien und Kommissionen des Staatsrats dafür, dass die Medien erst nach langem Hin und Her die Zustimmung bekamen, über ein wichtiges und bedrohliches Ereignis zu berichten. Nicht nur, dass die Nachricht zu diesem Zeitpunkt schon veraltet war – die Kommunikation zwischen der Bevölkerung und der Politik wurde nachhaltig gestört. Ich würde mir wünschen, dass sich das bessert.«
Als ich geendet hatte, lächelte der Ministerpräsident. Auf meine vorsichtige Kritik reagierte er sofort, indem er dem neben ihm sitzenden Staatsratsmitglied Hua Jianmin die Verantwortung dafür übertrug, sich dieses Themas anzunehmen.
Tags darauf sprachen mich Kollegen an: »Wir haben von ganz oben gehört, du hättest dich gestern nicht schlecht gemacht.«
Im Rückblick scheint der aufwühlende Kampf gegen SARS eine Ewigkeit her zu sein. Inzwischen geht das Leben längst wieder seinen gewohnten Gang, besser gesagt, es hat eher noch einen Gang zugelegt. Nachrichten, die die Krankheit betreffen, gehen meist sang- und klanglos unter. Das heißt aber nicht, dass die Menschen hierzulande keinen Gefahren mehr ausgesetzt wären. Ein Nachhall bleibt immer zurück, und wer nicht aus seinen Fehlern lernt, wird irgendwann von der Natur bestraft. 2009 wurde in der westlichen Hemisphäre das Influenza-A-Virus zu einer Bedrohung, ein Fall, der stark an die Nachrichten zu SARS erinnerte. Ich fragte mich, wie es wohl gewesen wäre, wenn Mexiko dieses gefährliche Virus monatelang verschwiegen hätte und sich erst wirklich damit auseinandergesetzt hätte, wenn die Lage schon kaum mehr unter Kontrolle zu bringen war. Was würden wir von solch einem Land denken? Wenige Jahre zuvor war genau das bei uns passiert. Glücklicherweise haben wir unsere Lektion gelernt. Im Kampf gegen Influenza A hat China schnell die Existenz der Krankheit zugegeben und effektive Maßnahmen ergriffen, sodass die Zahl der Opfer bei uns letztendlich weltweit die niedrigste war.
Im Jahr 2003 initiierte das Presseamt des Staatsrats ein großangelegtes Training für sämtliche staatlichen Pressesprecher. In der ersten Phase war ich einer der Teilnehmer, in der zweiten Phase wurde ich einer der Dozenten, und danach begann ich,
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