Sind wir nun gluecklich
Eindruck, dass die Bevölkerung die Angelegenheit einfach vergessen wollte.
Diese Geschichte gemahnt uns daran, dass man sich bei einer Katastrophe oft allzu schnell mit den kurzfristig erreichten Erfolgen zufriedengibt, ohne zu realisieren, dass man auch später noch nicht einfach die Hände in den Schoß legen kann. Es bleiben immer Fragen und Probleme offen, die kontinuierlich der Hilfe bedürfen. Sinnvoller ist es, die Idee der »Postkatastrophenhilfe« in den Köpfen zu verankern, damit die Leute von der Haltung »Aus den Augen, aus dem Sinn« abrücken.
Die Spuren, die SARS bei uns hinterlassen hat, sind weitläufig und gehen über die Langzeitpatienten hinaus. Was ist mit den Familien, die ihre Angehörigen verloren haben? Wer tröstet diejenigen, deren Familienmitglied sich als Krankenschwester infiziert hat und zu Tode gekommen ist? Und all die Überlebenden, die einen mehr oder minder schweren Krankheitsverlauf durchgemacht haben, brauchen sie nicht vielleicht psychologischen Beistand? Was können wir für diese Menschen tun?
Eine Gesellschaft, die es gewohnt ist zu vergessen, ist eine Gesellschaft ohne Hoffnung. Es ist schlichtweg gefährlich, einen Kampf wie den gegen das SARS-Virus einfach vergessen zu wollen.
Auch außerhalb von Peking gibt es gewiss noch viele Patienten, die an den Spätfolgen der Krankheit leiden. Und selbst wenn es nicht viele sind, selbst wenn es nur ein einziger ist, dann sollten wir ihn ausfindig machen und ihn retten wie den Soldaten James Ryan aus dem gleichnamigen Film, in chinesischer Version sozusagen. Schaffen wir das?
8 Tee aus der Wurzel der Isatis tinctoria L. (Färberwaid). Ein beliebtes traditionelles chinesisches Mittel gegen Erkältungen und Unwohlsein. Normalerweise in ganz China erhältlich.
9 Severe acute respiratory syndrome (schweres akutes respiratorisches Syndrom), eine Infektionskrankheit der Atemwege.
Kapitel 5 – Wir sind alle Katastrophenopfer
Wenn man in der Lebensmitte angekommen ist, ändert sich im Vergleich zur eigenen Jugend so einiges, selbst die Einstellung zum Wetter, zu Sonne und Wärme. Als ich jung war, mochte ich die Kälte, vielleicht weil ich ursprünglich aus dem Norden komme. In meiner Heimat schien sommers wie winters immer die Sonne. Sonnenschein war so selbstverständlich, dass wir uns gar keine Gedanken darum machten.
Mit dem Älterwerden stellte ich fest, dass sich meine Vorliebe allmählich verschob, statt der Kälte galt sie nun der Wärme. Gleichzeitig habe ich jetzt mehr Freude beim Anblick von Sonnenstrahlen als je zuvor. Wenn ich am frühen Morgen das Fenster öffne und die Sonne scheint, egal um welche Jahreszeit, dann habe ich das Gefühl, dass der Tag gut wird.
Im Frühjahr 2010 fiel es mir ganz besonders auf, dass der Winter sich einfach nicht verabschieden wollte. Der wirkliche Frühling schien noch weit, es war jedenfalls der kälteste, den ich in Peking je erlebt hatte. Besser gesagt war es der längste Winter. Und die Sonne zeigte sich auch mehr als spärlich. Morgen für Morgen, wenn ich die Vorhänge aufzog, war der Himmel grau, und meine Stimmung war in jenem Frühling ebenso düster.
Mit der Kälte war dann irgendwann Schluss, aber nun schlug das Schicksal erneut mit aller Wucht zu. Vielleicht waren wir einfach zu naiv gewesen anzunehmen, unser Land könnte so bald nicht noch eine Tragödie erleben.
Am 14. April 2010 ereignete sich in Yushu, in der westlichen Provinz Qinghai, ein schweres Erdbeben. Mehrere tausend Menschenleben wurden binnen Sekunden ausgelöscht. Tausende Kilometer davon entfernt in Shanghai fehlten gerade noch zwanzig Tage bis zur Eröffnung der Weltausstellung Expo 2010. Und China war in Trauer verstummt. Ich bin sicher, dass die Leute unweigerlich an das Erdbeben von Wenchuan am 12. Mai vor knapp zwei Jahren denken mussten, an das jeder seine ganz persönlichen Erinnerungen hatte.
So wirkt dieser Frühling 2010 in der Nachbetrachtung für uns noch grimmiger in seiner Kälte. Wieder war über viele Menschen Leid hereingebrochen. Immerhin hatten wir seit dem Erdbeben von Wenchuan einiges dazugelernt. Die beiden großen Erdbeben im kurzen Abstand von zwei Jahren hatten die Chinesen gelehrt, rechtzeitig zur Stelle zu sein, wo eine helfende Hand benötigt wurde. Schließlich sind wir alle Katastrophenopfer. Wir brauchen Solidarität, um solchen Attacken und dem damit verbundenen Notstand zu begegnen.
Ein Erdbeben in Japan
Mitte April und Anfang Mai 2008 verbrachte ich jeweils zehn Tage
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