Sine Culpa
wenige. Wir haben Aushänge mit der Bitte um Informationen gemacht und in den Hotels und Bars nachgefragt, aber leider ohne Erfolg.«
»Hat denn niemand irgendwas gesehen?«
»Nichts, tut mir leid.«
Fenwick nahm die Bänder mit in den Technikraum und kam sich albern vor. Er wusste nicht, warum er so was noch immer machte, sich um irgendwelche Details selber kümmern, die er gut hätte delegieren können. Aber er war nun mal hier und genoss es nach wie vor, aus dem Büro raus zu sein.
Er musste sich außerdem den anderen Grund eingestehen, warum er in London war und nicht in Harlden, und der war, dass Nightingale die Hauptermittlung sehr gut ohne ihn im Griff hatte. Er hatte noch immer ein schlechtes Gewissen, weil er sie zu Beginn des Falles so schroff behandelt hatte, und versuchte es wiedergutzumachen, indem er ihr möglichst freie Hand ließ, um sich zu bewähren.
Er ließ jedes Band schnell vorlaufen und ging auf Normalgeschwindigkeit, wenn eine Figur ins Bild kam. Nach einer halben Stunde und einer kurzen Pause, um etwas zu trinken, das angeblich Kaffee war, aber auch Altöl hätte sein können, hatte er fünf Sequenzen ausgesucht, auf denen ein und derselbe Mann vom Montague Place hinter dem British Museum her zum Russell Square ging und wieder zurück. Die Zeitspanne, in der er nicht zu sehen war, entsprach genau der Zeit des Telefonanrufs nach der Sendung CrimeNight .
Leider war auf keinem der Bilder das Gesicht gut zu erkennen, und die Größe des Mannes konnte er nur grob auf knapp ein Meter siebzig schätzen. Er ging zu Ben Woods, der die entsprechenden Sequenzen kopieren ließ, und erteilte die Anweisung, die Originalbänder sofort ins Labor zu schicken, um von Einzelbildern des Mannes vergrößerte Abzüge machen zu lassen.
»Was gibt’s denn so in der Gegend?«, fragte Fenwick, während er noch eine Tasse giftiger brauner Brühe trank.
»So gut wie nichts, was um diese Zeit noch aufhat. Ein paar Geschäfte, einen Pub an der Ecke, aber der Wirt hat nichts gesehen. Ein Stückchen weiter ist eine Kirche, und auf der Huntley Street gibt es ein Obdachlosenasyl, aber auch die schließen ihre Tore lange vor ein Uhr.«
»Kennen Sie Obdachlose in der Gegend, die draußen schlafen und verlässliche Zeugen sein könnten?«
»Klar, in den Gärten hier gibt’s jede Menge Schlafplätze, aber jemand, den ich für verlässlich halte, nein. So spät in der Nacht sind die meisten ohnehin weggetreten, und selbst wenn sie was gesehen hätten, würden sie’s uns bestimmt nicht sagen.«
Fenwick wartete, bis er seine Vergrößerungen bekam, und ging dann. Es war kurz nach sieben und das Londoner Wetter perfekt. Blauer Himmel, ein paar vereinzelte Wölkchen und ein leichter Wind, der erfrischte, aber nicht zu kalt war für die nackten Arme der Büroangestellten, die in der Sonne vor den Pubs noch ihr Bier tranken.
Einer Eingebung folgend, ging Fenwick Richtung Russell Square. Auf dem Platz angekommen, starrte er die Telefonzelle in der Ecke an, als könnte er den »Freund« heraufbeschwören. Stattdessen versuchte ein Bettler bei ihm sein Glück und bat ihn um Geld für eine Tasse Tee. Sein Geruch war so penetrant, dass Fenwick sich schon umdrehte, ehe der Mann etwas gesagt hatte.
»Bisschen Kleingeld, Chef? Hab heute noch nich mal ’n Tässchen Tee gehabt.« Die Fahne des Mannes ließ vermuten, dass er schon seit Jahren kein Tässchen Tee mehr getrunken hatte.
Fenwicks Kollegen wären erstaunt gewesen, wenn sie gewusst hätten, dass er immer ein paar Münzen für Almosen in der Tasche hatte. Der Mann vor ihm sah aus wie sechzig, war aber wahrscheinlich eher vierzig und nur vom harten Leben auf der Straße gezeichnet. Per Zufall bekam er siebzig Pence, und er bedankte sich, indem er tief den Kopf neigte. Fenwick fand die Geste zu unterwürfig und wollte schon weitergehen, doch dann stockte er.
»Ist das hier Ihr Revier?«, fragte er den Mann.
Der Penner sah ihn erschrocken an, doch dann blickte er auf die Silbermünzen in seiner schmutzigen Hand und nickte.
»Seit ein paar Wochen, aber bald geht’s weiter. Ich halt’s nirgendwo lange aus.«
»Ist die Gegend ganz okay?«
»So ziemlich. Die Straße hoch is’n Asyl. Is ganz praktisch, wenn’s sonst nix gibt.«
»Nur als Notlösung?«
»Da darf man nix trinken«, sagte der Mann abfällig, »und man muss baden.«
»Aha, die Heilsarmee.«
Der Mann kratzte sich am Kopf, und ein übler Geruch stieg Fenwick in die Nase, aber er ließ sich nichts
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