Sinfonie des Todes
Berückendes an sich; es war wohl unabwendbar, dass man sich Bilder und Begriffe über all das machte, was den Blicken entzogen ist. Wenn es nach Fichtner ging, so hinterließ noch immer die Gestalt des Schnitters den weitaus erträglichsten Eindruck unter all den Inkarnationen von Agonie, Elend und Not. Weit mit seiner Sense ausholend, mähte der Gevatter die weidwunden Seelen und fuhr die Ernte ein.
Der Geistliche setzte ein letztes Mal zu einem Gebet an, in das die Trauergäste einstimmten, und danach kehrte er der Versammlung den Rücken. Der Sektionsrat ließ seinen Blick über die Gräberreihen schweifen. An zwei Orten, etwas weiter von ihnen weg, waren ebenfalls Bestattungen im Gange, und noch weiter hinten beim Seiteneingang machte sich ein vierter Leichenzug daran, in einen der Kieswege einzuschwenken.
Lina stand mit einer Grazie, die an Anmut kaum zu übertreffen war, am offenen Grab und ließ die Kondolenzen über sich ergehen. Man bekundete sein Beileid, bezeigte Teilnahme und gab zu verstehen, wie stark man doch alles nachempfinde. Aus den Augenwinkeln verfolgte der Sektionsrat, wie die Witwe ihrem Dank Ausdruck verlieh. Ihre Worte kamen mechanisch über die Lippen, eingeübt wirkend und im stetig gleichen Tonfall. Als der letzte der Gäste Fichtners Hand gedrückt hatte, wandte er sich endlich an seine Schwägerin.
Es konnte ihm nicht entgehen, dass sie wieder einen seltsamen Ausdruck zeigte.
»Lina«, begann er unbeholfen, »ich versichere dir, das alles tut mir so unsagbar leid; dieser schreckliche Verlust … Er war ja auch mein Bruder … Nicht nur dein Gatte …«
»Bitte, sprich nicht mehr davon«, erwiderte sie tonlos. »Ich bin dir verpflichtet für deine Liebenswürdigkeit. Aber in Anbetracht der jetzigen Umstände … All diese Zeitungsmeldungen – das Gerede – deine Aussagen von Freitag. Das ängstigt mich.« Sie hielt sich die Hand vors Gesicht und hüstelte. Es hatte den Anschein, als ob sie um keinen Preis der Welt noch ein weiteres Wort in dieser Angelegenheit verlieren mochte. Sie verbeugte sich zeremoniell und höflich, doch Fichtner wusste, dass ihre Sätze unverbindlich waren und ohne tieferes Gefühl.
Er fragte sich tatsächlich, wie es Wilhelm neben so einer Xanthippe nur hatte aushalten können.
Lina Fichtner drehte sich um und schlug den Weg zum Ausgang ein. Die meisten der Trauernden hatten sich bereits zerstreut, nur zwei, drei kleine Grüppchen hatten sich noch gefunden, um zusammen ein wenig zu plaudern und den Tag Revue passieren zu lassen. Mit gemächlichen Schritten, die für eine Frau, die gerade ihren Mann beerdigt hatte, ziemend waren, spazierte die Witwe zur Simmeringer Hauptstraße hin. Lina blickte kurz zum Himmel. Dann sah sie sich um, bis sie das Automobil entdeckte, das Stephan Schrader in einiger Entfernung am Straßenrand abgestellt hatte. Sie raffte ihren Rock und schritt auf das Gefährt zu. Als sie eingestiegen war und die Tür zufiel, hatte ihr Schwager, der Herr Sektionsrat, soeben den Rand des Friedhofsgeländes erreicht. Gedankenversunken blickte er dem Auto nach, das holpernd und mit klopfendem Motor an Fahrt gewann und bald schon im Gewimmel der Leichenzüge verschwunden war.
Etwas weiter von ihm entfernt stand Gustav Wissel, dessen starre Augen unablässig auf dasselbe Ziel gerichtet waren.
20. Kapitel
Heiße und schwere Luft schlug Gustav entgegen, als er zwei Stunden später die Tür zur kleinen Eingangshalle öffnete. Seine Brust fühlte sich einen Augenblick unangenehm beengt an, und er stellte sich kurz an den Durchgang zur Wäscherei, um einen Blick in den dunstverhangenen Raum zu werfen, in dem einige der Arbeiterinnen Kleidungsstücke reinigten und unter Ächzen auswrangen. Deren gewaltig scheinende Muskelkraft beeindruckte ihn. Routiniert klatschten sie triefnasse Laken auf die Waschbretter und bearbeiteten sie mit ruckartigen Bewegungen. Ihre Gesichter waren schweißüberströmt, der Saum der meist blauen Röcke vom aufgesogenen Wasser dunkel gefärbt. Gelächter und Stimmen schwirrten durch den Raum, und ihn wunderte, wie sich die Frauen während einer solch anstrengenden Arbeit noch so angeregt unterhalten konnten.
Bevor ihn eine der Wäscherinnen entdecken konnte, entfernte er sich von der Tür und stieg die Stufen zu Marias Zimmer hinauf. An die Wand des Treppenhauses hatte jemand kleine Bilder gehängt, die verschiedene Familienszenen darstellten. Auf einem aßen die Eltern mit zwei Kindern das Abendbrot, und auf dem
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