Sinfonie des Todes
doch auf der Hand, dass sie in der Öffentlichkeit als Vertreterin der Frauenfrage gesehen wird. In den Kaffeehäusern wird über sie disputiert, in den Waschsalons getratscht. Die Lina ist eine Frau, die das Heft selbst in die Hand nimmt. Wenn man dem Geschwätz der Leute Glauben schenken darf, so hatte sie sich längst von ihrem Gatten emanzipiert. Das kleine Fräulein aus der Provinz ist nun in der Großstadt angekommen. Sie steht unter keiner Kuratel, niemand sagt ihr, was sie zu tun und zu lassen habe.«
»Da ist was Wahres dran«, warf ihr Schwager beipflichtend ein.
»Meine Rede«, nickte Kraus zufrieden. »Und ich muss offen gestehen, dass ich dem Feminismus, der ihr innewohnt, huldige. Selbst solch misogyne Dickköpfe wie etwa Belfort Bax oder Paul Möbius würden sich vergeblich an ihr abmühen.«
»Sieh an, sieh an«, murmelte Fichtner verlegen. Dass dem Mordfall an seinem Bruder eine neue, gänzlich andere Note gegeben wurde als die rein kriminalistische, erfüllte ihn mit leichtem Unbehagen. »Sie entpuppen sich immer mehr als Frauenversteher«, meinte er deshalb mit bissigem Sarkasmus.
Karl Kraus ließ indessen den Blick durch den Raum schweifen, bis er wieder auf Lina zu ruhen kam. Ohne Zweifel, diese Frau am Roulettetisch bot den denkbar vorteilhaftesten Anblick. Jeder, der von der Zurschaustellung weiblicher Reize auch nur das kleinste bisschen verstand, musste zugeben, dass ihr Körper in der für den heutigen Abend gewählten Garderobe ohne Fehl und Tadel war. »Ja, ja – wahrlich, ich verehre Suffragetten.« Der Publizist lächelte genüsslich, sowie er dies gesagt hatte.
Der Inspektor und der Sektionsrat sahen ihn an, beide in Erwartung des wohl unausweichlichen Bonmots, das gleich kommen würde.
»Ja, meine Herren, ich verehre Suffragetten«, wiederholte Kraus, bevor er seinen chauvinistischen Nachtrag nachreichte: »Besonders jene mit prallem Dekolleté und üppigem Hintern.«
Robert Fichtner hüstelte leise, da er den Spruch ausgesprochen geschmacklos fand. Auch Warnstedt war wenig begeistert. Gemeinsam zeigten sie sich bemüht, die gefahrvollen Klippen der Konversation zu umschiffen und das Gespräch mit dem eigensinnigen Verleger zu einem guten Ende zu bringen.
Vorerst jedoch sollte ihr Wunsch noch unerfüllt bleiben.
»Weshalb interessiert sich eigentlich alle Welt für das Schicksal meiner Schwägerin?«, erkundigte sich der Sektionsrat leicht verstimmt. »Es gibt alle Tage mal einen Mord oder sonst ein ungelöstes Verbrechen.«
»Das schon«, pflichtete Kraus bei. »Aber deren Protagonisten sind bei Weitem nicht so interessant wie eine trauernde junge Witwe, die zudem noch hübsch ist. Die großen Skandale hat es in Wien ja nie gegeben. Der Pöbel hier lechzt einfach nach einer zweiten Dubarry, nach einer Halsbandaffäre oder nach einer verruchten Nell Gwynn. Und Ihre Lina bedient diese Erwartungen ausgezeichnet.«
»Und Sie? Sind Sie etwa auch dieser Meinung?«
»Keineswegs, lieber Robert. Ich konstatiere lediglich, dass der einfache Mann von der Straße seine tägliche Dosis Klatsch und Tratsch braucht. Die Frauenfrage und die antisemitischen Tendenzen sind bloß schmückendes Beiwerk.«
»Wenn es weiter nichts ist«, meinte Fichtner trocken.
»Seien S’ jetzt net beleidigt, Robert. Ich stehe auf Ihrer Seite.«
Ihre Blicke trafen sich. Einen Augenblick lang sah der Angesprochene den Verleger ernst und aufmerksam an, als wollte er sich die Worte einprägen. Kraus zuckte mit den Achseln. Nichts, rein gar nichts, vermochte ihn aus seiner außergewöhnlichen und absonderlichen Ruhe zu bringen.
Cyprian von Warnstedt stieß seinen Begleiter unauffällig an und deutete, um dem Abend endgültig eine andere Wendung zu geben, auf den Roulettetisch, an dem noch immer Lina und Schrader standen. Diese Diskussion hatte bereits viel zu lange gedauert, wenn es nach seinem Gutdünken ging, und dem Inspektor schien der geeignete Augenblick gekommen, das Thema zu wechseln.
»Wollen wir uns dem Spiel widmen?«, machte er den Vorschlag.
»Warum nicht?«, stimmte Fichtner zu.
In sein Gesicht stand die Entschlossenheit geschrieben, sich den Observierten endlich zu offenbaren. Mit hastigen Schritten trat der Sektionsrat vor und spielte zwei gleiche Beträge. Er setzte fünf Gulden auf Schwarz und fünf auf die dritte Kolonne und deckte damit 26 Zahlen ab, von denen vier doppelt belegt waren. Linas verwunderter Blick, ihn hier anzutreffen, war plötzlich auf ihn gerichtet, und er nickte
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