Sinnliche Maskerade
begreife ich besser.«
»Das ist schön«, erwiderte Jasper, »es ist nur nicht gut, mit halb geschlossenen Augen in eine Familie einzuheiraten.«
»Jasper, es gibt keinen Grund, so verbittert zu klingen«, protestierte Clarissa sanft, »wir sind unsere eigene Familie. Deine Brüder und wir. Oh, es ist natürlich notwendig, den Onkeln und Tanten hin und wieder einen Besuch abzustatten, aber das ist keine besonders große Herausforderung. Alex, lass dich von Jaspers düsteren Ansichten nicht ins Bockshorn jagen.«
»Nein, das sollten Sie wirklich nicht«, bestätigte Jasper und schüttelte seine Bitterkeit ab, »Clarissa hat ganz recht. Meine Brüder und ich, wir schaffen unseren eigenen Zweig der Familie. Mit unseren eigenen Werten.« Ein beinahe vergnügter Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Ja, tatsächlich, so ungern ich es auch eingestehe, im Grunde genommen sind wir Onkel Bradley viel mehr verwandt als der übrigen Familie.«
Es war früher Nachmittag, als Alex die Upper Brook Street in Jaspers offenem Zweispänner verließ. Sie trug den Canzoniere bei sich, sorgfältig eingewickelt in Seide. Es war die einzige Kostbarkeit geblieben, die sie bei ihrer Durchsuchung der Regale gefunden hatte. Aber der Wert des Buches sollte ein beachtliches Loch in den Schatztruhen der Blackwaters stopfen helfen. Vor dem Haus am Berkeley Square zog Jasper die Zügel an und wandte sich an seinen Passagier.
»Nun, Alexandra, wenn wir uns vorher nicht mehr sehen, dann spätestens an Ihrem Hochzeitsmorgen. Wir freuen uns sehr darauf.«
Wieder einmal hatte sie das Gefühl, von einer Flut der Unausweichlichkeit ergriffen zu werden. Alle achteten so sorgsam darauf, nicht aus ihrer Rolle zu fallen, hießen sie so bereitwillig in ihrem eng verbundenen Kreis willkommen ... nur dass sie noch nicht bereit war.
»Genau wie ich, Mylord«, sagte sie und trat auf die Straße. Er reichte die Zügel an seinen Gehilfen weiter und sprang neben sie auf die Straße.
»Ich bin überzeugt, dass Sie begriffen haben, wie wichtig all dies ist«, sagte er, während er den Türklopfer auf die Messingplatte sausen ließ. »Die Sache hat auch eine gewisse Dringlichkeit.«
»Das verstehe ich, Mylord.« Sie knickste kurz, nachdem Billings die Tür geöffnet hatte, und trat rasch in die Halle. Den Seufzer der Erleichterung erlaubte sie sich erst, als sie hörte, wie die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. »Sind Briefe für mich angekommen, Billings?« Sie zog sich die Handschuhe aus und stellte fest, dass sie ein wenig zitterte.
»Aye, zwei Briefe.« Er deutete auf den fleckigen Präsentierteller, auf dem zwei versiegelte Briefe lagen.
»Danke.« Sie griff nach den Briefen. »Ich hoffe, im Salon brennt ein ordentliches Feuer?«
»Ich schicke Archie mit einer frischen Kohlenschütte rein.« Er schlurfte fort, während Alexandra den Salon betrat.
Das Feuer war weit heruntergebrannt. Es würde allerdings nicht lange dauern, bis es wieder loderte. Ihren Umhang behielt sie jedoch über den Schultern, während sie die Korrespondenz durchsah. Lord Dewforths Siegel zierte den einen, Mr. Murdocks Siegel den anderen Brief. Sie schlitzte den ersten Brief auf: Kurz und auf den Punkt nannte Seine Lordschaft den Preis, den er für die Bibliothek von Sir Arthur Douglas zu zahlen bereit war.
Alex pfiff geräuschlos durch die Zähne. Der Preis war noch höher, als sie erwartet hatte. Anschließend erbrach sie das Siegel des zweiten Briefes - und riss die Augen auf. Mr. Murdocks Angebot übertraf das seines Konkurrenten Lord Dewforth um Haaresbreite. Sie setzte sich an den Schreibtisch, schrieb einen freundlichen Brief der Annahme an Mr. Murdock und eine freundliche Zurückweisung an Seine Lordschaft, die sie mit dem Angebot des Canzoniere abmilderte.
Dann schickte sie die Briefe mit Archie auf den Weg. Als sie in die Bibliothek zurückkehrte, kämpfte sie gegen unerwartete Tränen. Jetzt waren Fakten geschaffen, vor denen es kein Entrinnen mehr gab. Solange ihre Erinnerung zurückreichte, war die Bibliothek immer ein Glück und Freude bringender Teil ihres Lebens gewesen. In den letzten Monaten auf Combe Abbey hatte sie, während sie die Sammlung in allen Einzelheiten untersuchte, festgestellt, was der Bestand ihrem Vater wohl bedeutet haben mochte. Nun war es vorbei.
Es dauerte keine Stunde, bis sie Antworten auf ihre beiden Briefe erhielt. Lord Dewforth schrieb kurz, dass er anerkannte, überboten worden zu sein, drückte aber den Wunsch aus, den
Canzoniere
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